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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ainerikailisches Eisenbahnwesen.

bilden dabei die ven8 ag-mes, d. h. Agenten, welche alle fünf Minuten den
ganzen Zug von einem Ende bis zum andern durchlaufen, um dem reisenden
Publikum bald etwas Obst, bald Photographien. Unterhaltungsbücher. Reisc-
mützen. Hosenträger oder andre überflüssige Dinge anzubieten. Es zeugt von
der rücksichtslosen Erwerbssncht des Amerikaners, dem Palladium des woiio^
wickinA, daß selbst die reichsten Eisenbahngesellschaften die geringen Pachtsnmmen
dieser Agenten nicht verschmähen, obwohl diese Menschen nicht bloß ganz
überflüssig sind, sondern das Publikum dnrch ihr fortwährendes Gelaufe und
Aufdränge" lediglich belästigen. Wehe dem Unglücklichen, der in ahnungslosen
Halbschlummer seine Füße über den Bereich seines Sitzes hinaus in den
Mittelgang vorschiebt; ein markiger Tritt entreißt ihn seinen Träumereien und
führt ihn erbarmungslos in die rauhe Wirklichkeit zurück.

Doch das sind lauter Kleinigkeiten im Vergleich zu den Gefahren, welche
die mangelhafte Entleerungsfähigkeit der Wagen bei Unglücksfällen mit sich
bringt. Bei dem gänzlichen Mangel an Seitenthüren und der geringen Weite
der Fenster bilden den einzigen Ausweg die beiden schmalen Kopfthüren, welche
sich in solchen Augenblicken durch die gewaltsam nachdrängenden nur zu schnell
verstopfen, zumal da die Wagen durchweg wohl doppelt so lang und um den
Raum des Mittelganges breiter als die unsrigen sind. Dazu kommt, daß die
eisernen Öfen, von denen je einer um jeder Ecke des Wagens steht, bei Zu¬
sammenstößen sofort umkippen und durch die Entleerung ihres glühenden In¬
halts nicht bloß den Ausgang gefährden, sondern auch im Nu den ganzen
Wagen in Brand setzen und so die Reisenden dem Feuertode preisgeben, dem sie
sonst durch einen Sprung aus der Seitenthür wohl noch entronnen wären. Bei
der allgemeinen Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen, auf deren Ursachen
wir noch später zu sprechen kommen, müssen solche Umstände, die unsern deutschen
Wagen glücklicherweise unbekannt sind, doppelt schwer ins Gewicht fallen; ich
habe mich daher zu einem überzeugten Anhänger der amerikanischen Wagen¬
einrichtung umso weniger bekennen können, als ich leider Gelegenheit hatte, seine
Mängel aus eigner Erfahrung kennen zu lernen.

Wir fuhren gerade an dem steilen Seeufer des Lake Champlmu, unWelt
der seinem berühmten Schwestersee Lake George zuführenden Kreuzungsstatwn
Ticonderoga, in langsamer Fahrt hin. als sich plötzlich hinter einem Fels-
vorsprunge, bei dem wir eben vorüber waren, ein verdächtiges Geräusch wie
das einer andampfenden Lokomotive vernehmen ließ. Im Augenblick waren
sämtliche Insassen unsers Wagens aufgesprungen und liefen aus Leibeskräften
der vordem Thür zu; aber ehe noch der erste sie öffnen konnte, gab es einen
fürchterlichen Krach, der uns alle durcheinander warf und den bereits geheizten
Ofen mitten unter uns. sodaß der Wagen sofort mit Qualm erfüllt und in
Brand gesetzt wurde. Der Geistesgegenwart der zunächst befindlichen gelang
es, den Inhalt des Trinkwasserbehältcrs über die kostender Stellen auszuschütten.


Ainerikailisches Eisenbahnwesen.

bilden dabei die ven8 ag-mes, d. h. Agenten, welche alle fünf Minuten den
ganzen Zug von einem Ende bis zum andern durchlaufen, um dem reisenden
Publikum bald etwas Obst, bald Photographien. Unterhaltungsbücher. Reisc-
mützen. Hosenträger oder andre überflüssige Dinge anzubieten. Es zeugt von
der rücksichtslosen Erwerbssncht des Amerikaners, dem Palladium des woiio^
wickinA, daß selbst die reichsten Eisenbahngesellschaften die geringen Pachtsnmmen
dieser Agenten nicht verschmähen, obwohl diese Menschen nicht bloß ganz
überflüssig sind, sondern das Publikum dnrch ihr fortwährendes Gelaufe und
Aufdränge« lediglich belästigen. Wehe dem Unglücklichen, der in ahnungslosen
Halbschlummer seine Füße über den Bereich seines Sitzes hinaus in den
Mittelgang vorschiebt; ein markiger Tritt entreißt ihn seinen Träumereien und
führt ihn erbarmungslos in die rauhe Wirklichkeit zurück.

Doch das sind lauter Kleinigkeiten im Vergleich zu den Gefahren, welche
die mangelhafte Entleerungsfähigkeit der Wagen bei Unglücksfällen mit sich
bringt. Bei dem gänzlichen Mangel an Seitenthüren und der geringen Weite
der Fenster bilden den einzigen Ausweg die beiden schmalen Kopfthüren, welche
sich in solchen Augenblicken durch die gewaltsam nachdrängenden nur zu schnell
verstopfen, zumal da die Wagen durchweg wohl doppelt so lang und um den
Raum des Mittelganges breiter als die unsrigen sind. Dazu kommt, daß die
eisernen Öfen, von denen je einer um jeder Ecke des Wagens steht, bei Zu¬
sammenstößen sofort umkippen und durch die Entleerung ihres glühenden In¬
halts nicht bloß den Ausgang gefährden, sondern auch im Nu den ganzen
Wagen in Brand setzen und so die Reisenden dem Feuertode preisgeben, dem sie
sonst durch einen Sprung aus der Seitenthür wohl noch entronnen wären. Bei
der allgemeinen Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen, auf deren Ursachen
wir noch später zu sprechen kommen, müssen solche Umstände, die unsern deutschen
Wagen glücklicherweise unbekannt sind, doppelt schwer ins Gewicht fallen; ich
habe mich daher zu einem überzeugten Anhänger der amerikanischen Wagen¬
einrichtung umso weniger bekennen können, als ich leider Gelegenheit hatte, seine
Mängel aus eigner Erfahrung kennen zu lernen.

Wir fuhren gerade an dem steilen Seeufer des Lake Champlmu, unWelt
der seinem berühmten Schwestersee Lake George zuführenden Kreuzungsstatwn
Ticonderoga, in langsamer Fahrt hin. als sich plötzlich hinter einem Fels-
vorsprunge, bei dem wir eben vorüber waren, ein verdächtiges Geräusch wie
das einer andampfenden Lokomotive vernehmen ließ. Im Augenblick waren
sämtliche Insassen unsers Wagens aufgesprungen und liefen aus Leibeskräften
der vordem Thür zu; aber ehe noch der erste sie öffnen konnte, gab es einen
fürchterlichen Krach, der uns alle durcheinander warf und den bereits geheizten
Ofen mitten unter uns. sodaß der Wagen sofort mit Qualm erfüllt und in
Brand gesetzt wurde. Der Geistesgegenwart der zunächst befindlichen gelang
es, den Inhalt des Trinkwasserbehältcrs über die kostender Stellen auszuschütten.


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[0443] Ainerikailisches Eisenbahnwesen. bilden dabei die ven8 ag-mes, d. h. Agenten, welche alle fünf Minuten den ganzen Zug von einem Ende bis zum andern durchlaufen, um dem reisenden Publikum bald etwas Obst, bald Photographien. Unterhaltungsbücher. Reisc- mützen. Hosenträger oder andre überflüssige Dinge anzubieten. Es zeugt von der rücksichtslosen Erwerbssncht des Amerikaners, dem Palladium des woiio^ wickinA, daß selbst die reichsten Eisenbahngesellschaften die geringen Pachtsnmmen dieser Agenten nicht verschmähen, obwohl diese Menschen nicht bloß ganz überflüssig sind, sondern das Publikum dnrch ihr fortwährendes Gelaufe und Aufdränge« lediglich belästigen. Wehe dem Unglücklichen, der in ahnungslosen Halbschlummer seine Füße über den Bereich seines Sitzes hinaus in den Mittelgang vorschiebt; ein markiger Tritt entreißt ihn seinen Träumereien und führt ihn erbarmungslos in die rauhe Wirklichkeit zurück. Doch das sind lauter Kleinigkeiten im Vergleich zu den Gefahren, welche die mangelhafte Entleerungsfähigkeit der Wagen bei Unglücksfällen mit sich bringt. Bei dem gänzlichen Mangel an Seitenthüren und der geringen Weite der Fenster bilden den einzigen Ausweg die beiden schmalen Kopfthüren, welche sich in solchen Augenblicken durch die gewaltsam nachdrängenden nur zu schnell verstopfen, zumal da die Wagen durchweg wohl doppelt so lang und um den Raum des Mittelganges breiter als die unsrigen sind. Dazu kommt, daß die eisernen Öfen, von denen je einer um jeder Ecke des Wagens steht, bei Zu¬ sammenstößen sofort umkippen und durch die Entleerung ihres glühenden In¬ halts nicht bloß den Ausgang gefährden, sondern auch im Nu den ganzen Wagen in Brand setzen und so die Reisenden dem Feuertode preisgeben, dem sie sonst durch einen Sprung aus der Seitenthür wohl noch entronnen wären. Bei der allgemeinen Unsicherheit der amerikanischen Eisenbahnen, auf deren Ursachen wir noch später zu sprechen kommen, müssen solche Umstände, die unsern deutschen Wagen glücklicherweise unbekannt sind, doppelt schwer ins Gewicht fallen; ich habe mich daher zu einem überzeugten Anhänger der amerikanischen Wagen¬ einrichtung umso weniger bekennen können, als ich leider Gelegenheit hatte, seine Mängel aus eigner Erfahrung kennen zu lernen. Wir fuhren gerade an dem steilen Seeufer des Lake Champlmu, unWelt der seinem berühmten Schwestersee Lake George zuführenden Kreuzungsstatwn Ticonderoga, in langsamer Fahrt hin. als sich plötzlich hinter einem Fels- vorsprunge, bei dem wir eben vorüber waren, ein verdächtiges Geräusch wie das einer andampfenden Lokomotive vernehmen ließ. Im Augenblick waren sämtliche Insassen unsers Wagens aufgesprungen und liefen aus Leibeskräften der vordem Thür zu; aber ehe noch der erste sie öffnen konnte, gab es einen fürchterlichen Krach, der uns alle durcheinander warf und den bereits geheizten Ofen mitten unter uns. sodaß der Wagen sofort mit Qualm erfüllt und in Brand gesetzt wurde. Der Geistesgegenwart der zunächst befindlichen gelang es, den Inhalt des Trinkwasserbehältcrs über die kostender Stellen auszuschütten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/443>, abgerufen am 28.07.2024.