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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi lind Jhering.

Notwendigkeit, ja sogar die Möglichkeit weg, dem Übel zu widerstreben; Tolstois
Vorschrift mit Rücksicht auf das durch sie zu erreichende Ziel wäre also eine
l'vWo xrinvixii. In ähnlicher Weise könnte man in Iherings Kampftheorie
folgendes Dilemma finden. "Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel
dazu der Kampf. So lange das Recht sich ans den Angriff von feiten des
Unrechts gefaßt halten muß -- und dies wird dauern, so lange die Welt
steht --, wird ihm der Kampf uicht erspart bleiben." Wenn nun nach Iherings
eigner Überzeugung dem Rechte der Kampf niemals erspart bleiben wird, wie
soll denn durch den Kampf das Ziel des Rechtes, das ist der Friede, jemals
erreicht werden? Der Friede wäre also entweder nicht das Ziel des Rechtes,
oder der Kampf wäre uicht das taugliche Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Diese logischen Einwendungen sind aber keineswegs geeignet, den gesamten
Anschauungskreis, welcher und der Nesignationslehrc Tolstois oder mit der
Kampfthcorie Iherings verknüpft ist, zu erschüttern, denn jene Widersprüche,
die uns als xcztitiv xrinvixü oder als Dilemma entgegentreten, sind nur scheinbar;
sie bestehen nur dann, wenn man sich mit dem bereits durchgeführten Prinzip
in Gedanken sogleich an den Endpunkt der Bewegung versetzt. Dies dürfen
wir aber nicht, wenn wir gegen Tolstoi und Jhering nicht ungerecht sein wollen;
wir müssen vielmehr die Zeit des Überganges von den bestehenden Zuständen
bis zur Verwirklichung jenes friedfertigen kampflosen Zusammenlebens der
Menschen, welches als Ziel in weiter Ferne erscheint, ins Auge fassen, und da
entsteht nun die Frage: Ist es besser, daß alle verzichten oder daß alle kämpfen?
Ist es besser, daß ich als Einzelner verzichte, um durch mein Verhalten den
andern ein Beispiel zu geben, damit infolge dessen immer mehr und in späterer
Zeit endlich einmal alle verzichten, oder ist es besser, daß ich das Beispiel des
Kampfes ums Recht gebe, damit durch dieses beharrliche Verfechter des Rechtes
immer mehr und endlich einmal alle zurückgeschreckt werden, einander Böses
M thun?

Man sieht, wenn man Tolstoi und Jhering in solcher Art auffaßt, daß
sowohl das eine wie das andre Prinzip einen außerordentlichen Wert besitzt,
wenn auch keins von beiden als schlechthin giltig bezeichnet werden kann. Es
würde sich also zunächst um die Grenzlinie handeln, bis zu welcher die Giltig-
keit des einen und des andern reicht.

Hiermit sehen wir uns aber nur vor eine neue Schwierigkeit gestellt; das
Problem ist nur verschoben, wenn die Forderung gestellt wird, diese Grenzlinie
in allgemein giltiger Weise zu bestimmen. Wäre man dies imstande, so
wäre der Widerstreit zwischen Recht und Moral sofort aufgelöst: Hie Tolstoi --
hie Jhering! Ist nun aber auch die objektive Bestimmung dieser Grenzlinie
nicht möglich, so hat doch jeder Einzelne das Mittel in der Hand, diese Grenz¬
linie für seine Person, also in subjektiver Weise zu ziehen; es ist dazu nichts
weiter nötig, als verschiedne praktische Fälle ins Auge zu fassen und sie an


Tolstoi lind Jhering.

Notwendigkeit, ja sogar die Möglichkeit weg, dem Übel zu widerstreben; Tolstois
Vorschrift mit Rücksicht auf das durch sie zu erreichende Ziel wäre also eine
l'vWo xrinvixii. In ähnlicher Weise könnte man in Iherings Kampftheorie
folgendes Dilemma finden. „Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel
dazu der Kampf. So lange das Recht sich ans den Angriff von feiten des
Unrechts gefaßt halten muß — und dies wird dauern, so lange die Welt
steht —, wird ihm der Kampf uicht erspart bleiben." Wenn nun nach Iherings
eigner Überzeugung dem Rechte der Kampf niemals erspart bleiben wird, wie
soll denn durch den Kampf das Ziel des Rechtes, das ist der Friede, jemals
erreicht werden? Der Friede wäre also entweder nicht das Ziel des Rechtes,
oder der Kampf wäre uicht das taugliche Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Diese logischen Einwendungen sind aber keineswegs geeignet, den gesamten
Anschauungskreis, welcher und der Nesignationslehrc Tolstois oder mit der
Kampfthcorie Iherings verknüpft ist, zu erschüttern, denn jene Widersprüche,
die uns als xcztitiv xrinvixü oder als Dilemma entgegentreten, sind nur scheinbar;
sie bestehen nur dann, wenn man sich mit dem bereits durchgeführten Prinzip
in Gedanken sogleich an den Endpunkt der Bewegung versetzt. Dies dürfen
wir aber nicht, wenn wir gegen Tolstoi und Jhering nicht ungerecht sein wollen;
wir müssen vielmehr die Zeit des Überganges von den bestehenden Zuständen
bis zur Verwirklichung jenes friedfertigen kampflosen Zusammenlebens der
Menschen, welches als Ziel in weiter Ferne erscheint, ins Auge fassen, und da
entsteht nun die Frage: Ist es besser, daß alle verzichten oder daß alle kämpfen?
Ist es besser, daß ich als Einzelner verzichte, um durch mein Verhalten den
andern ein Beispiel zu geben, damit infolge dessen immer mehr und in späterer
Zeit endlich einmal alle verzichten, oder ist es besser, daß ich das Beispiel des
Kampfes ums Recht gebe, damit durch dieses beharrliche Verfechter des Rechtes
immer mehr und endlich einmal alle zurückgeschreckt werden, einander Böses
M thun?

Man sieht, wenn man Tolstoi und Jhering in solcher Art auffaßt, daß
sowohl das eine wie das andre Prinzip einen außerordentlichen Wert besitzt,
wenn auch keins von beiden als schlechthin giltig bezeichnet werden kann. Es
würde sich also zunächst um die Grenzlinie handeln, bis zu welcher die Giltig-
keit des einen und des andern reicht.

Hiermit sehen wir uns aber nur vor eine neue Schwierigkeit gestellt; das
Problem ist nur verschoben, wenn die Forderung gestellt wird, diese Grenzlinie
in allgemein giltiger Weise zu bestimmen. Wäre man dies imstande, so
wäre der Widerstreit zwischen Recht und Moral sofort aufgelöst: Hie Tolstoi —
hie Jhering! Ist nun aber auch die objektive Bestimmung dieser Grenzlinie
nicht möglich, so hat doch jeder Einzelne das Mittel in der Hand, diese Grenz¬
linie für seine Person, also in subjektiver Weise zu ziehen; es ist dazu nichts
weiter nötig, als verschiedne praktische Fälle ins Auge zu fassen und sie an


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[0415] Tolstoi lind Jhering. Notwendigkeit, ja sogar die Möglichkeit weg, dem Übel zu widerstreben; Tolstois Vorschrift mit Rücksicht auf das durch sie zu erreichende Ziel wäre also eine l'vWo xrinvixii. In ähnlicher Weise könnte man in Iherings Kampftheorie folgendes Dilemma finden. „Das Ziel des Rechts ist der Friede, das Mittel dazu der Kampf. So lange das Recht sich ans den Angriff von feiten des Unrechts gefaßt halten muß — und dies wird dauern, so lange die Welt steht —, wird ihm der Kampf uicht erspart bleiben." Wenn nun nach Iherings eigner Überzeugung dem Rechte der Kampf niemals erspart bleiben wird, wie soll denn durch den Kampf das Ziel des Rechtes, das ist der Friede, jemals erreicht werden? Der Friede wäre also entweder nicht das Ziel des Rechtes, oder der Kampf wäre uicht das taugliche Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Diese logischen Einwendungen sind aber keineswegs geeignet, den gesamten Anschauungskreis, welcher und der Nesignationslehrc Tolstois oder mit der Kampfthcorie Iherings verknüpft ist, zu erschüttern, denn jene Widersprüche, die uns als xcztitiv xrinvixü oder als Dilemma entgegentreten, sind nur scheinbar; sie bestehen nur dann, wenn man sich mit dem bereits durchgeführten Prinzip in Gedanken sogleich an den Endpunkt der Bewegung versetzt. Dies dürfen wir aber nicht, wenn wir gegen Tolstoi und Jhering nicht ungerecht sein wollen; wir müssen vielmehr die Zeit des Überganges von den bestehenden Zuständen bis zur Verwirklichung jenes friedfertigen kampflosen Zusammenlebens der Menschen, welches als Ziel in weiter Ferne erscheint, ins Auge fassen, und da entsteht nun die Frage: Ist es besser, daß alle verzichten oder daß alle kämpfen? Ist es besser, daß ich als Einzelner verzichte, um durch mein Verhalten den andern ein Beispiel zu geben, damit infolge dessen immer mehr und in späterer Zeit endlich einmal alle verzichten, oder ist es besser, daß ich das Beispiel des Kampfes ums Recht gebe, damit durch dieses beharrliche Verfechter des Rechtes immer mehr und endlich einmal alle zurückgeschreckt werden, einander Böses M thun? Man sieht, wenn man Tolstoi und Jhering in solcher Art auffaßt, daß sowohl das eine wie das andre Prinzip einen außerordentlichen Wert besitzt, wenn auch keins von beiden als schlechthin giltig bezeichnet werden kann. Es würde sich also zunächst um die Grenzlinie handeln, bis zu welcher die Giltig- keit des einen und des andern reicht. Hiermit sehen wir uns aber nur vor eine neue Schwierigkeit gestellt; das Problem ist nur verschoben, wenn die Forderung gestellt wird, diese Grenzlinie in allgemein giltiger Weise zu bestimmen. Wäre man dies imstande, so wäre der Widerstreit zwischen Recht und Moral sofort aufgelöst: Hie Tolstoi — hie Jhering! Ist nun aber auch die objektive Bestimmung dieser Grenzlinie nicht möglich, so hat doch jeder Einzelne das Mittel in der Hand, diese Grenz¬ linie für seine Person, also in subjektiver Weise zu ziehen; es ist dazu nichts weiter nötig, als verschiedne praktische Fälle ins Auge zu fassen und sie an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/415>, abgerufen am 28.07.2024.