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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Tolstoi und Ehering.

niemand Unrecht! und ich sage nur: ich will niemand Unrecht thun. Kann ich
nun in einem bestimmten Falle dieser Forderung in keiner andern Weise gerecht
werden als dadurch, daß ich selbst Unrecht leide, so will ich es leiden! Ist
denn aber diese Alternative durchaus unvermeidlich? Keineswegs; im Gegen¬
teil, der Fall ist weit häufiger, daß ich, um kein Unrecht zu leiden, gar uicht
nötig habe, Unrecht zu thun, ich habe vielmehr das Unrecht, das ein andrer
mir zufügt, bloß abzuwehren. Wie also, wenn jemand mir Unrecht thut? wie
soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Nicht Unrecht zu thun, schreibt die
Forderung des Rechts dem andern ebenso vor wie mir. Ich halte mich an
diese Vorschrift, der andre aber hält sich an diese Vorschrift nicht; sein Egois¬
mus treibt ihn, mich zu verletzen. Soll ich die Verletzung dulden? Die Frage
ist also hier nicht mehr die sokratische. ob es besser sei. Unrecht zu thun oder
Unrecht zu leiden; die Frage ist vielmehr, ob es besser sei, Unrecht zu leiden
oder das Unrecht abwehren? Diese Abwehr ist aber nicht mehr ein bloß
Passives Verhalten, sondern "vtwcudig eine Thätigkeit. Das Recht verlangt
nun diese Thätigkeit, Jhering fordert sie mit allem Nachdruck, aller Enschieden-
heit. Tolstoi aber (und dies ist der Punkt, worin er gestützt auf die Lehre
der Bergpredigt über die sokratische Ethik hinausgeht) lehrt auch in diesem
Falle: Widerstrebe nicht dem Übel! Wenn man dir einen Schlag auf den
einen Backen giebt, so halte auch den andern hin u. s. w.

Ein Widerstreit zwischen Recht und Moral ist also, wie man sieht, gar
wohl möglich, und er ist so alt wie das Christentum; denn verlangt auf der
eiuen Seite Tolstoi nichts andres, als was in der Bergpredigt gelehrt wird,
so haben ja ans der andern Seite die Menschen der frühern Jahrhunderte wie
die der Gegenwart auch ohne Iherings Ermunterung für ihre Rechte stets
wacker gekciinpft und jeden Angriff eines Gegners kräftig abzuwehren gesucht.
Könnte es denn nun nicht ebenso weiter gehen, wie es bisher gegangen ist? Ver¬
mutlich, obwohl es gerade das ist, was Tolstoi leugnet. Hier handelt es sich
jedoch nicht darum, wie es weiter gehen wird oder wie es weiter gehen soll,
sondern darum, wie ein denkender Mensch, der bestrebt ist, keine Dunkelheit des
Geistes bestehen zu lassen, über eine Frage, deren Wichtigkeit niemand leugnen
wird, mit sich ins Klare kommen könne.

Daß das Recht allein, ohne Moral, zur Lebensführung nicht ausreicht,
das fühlt man wohl mehr oder minder, wenn man es sich auch uoch nicht klar
gemacht hat; es läßt sich aber durchaus Kar machen. Nehmen wir an (und
dies ist gewiß eine ideale Voraussetzung), die ganze Gesellschaft bestünde aus
lauter rechtlich gesinnten Menschen, so könnte sie doch nicht bestehen, ohne daß
dabei Millionen vou Menschen zu Grunde gehen. Wenn auch kein Mensch dem
andern das geringste Unrecht thut, bleibt noch immer sehr viel Unglück übrig,
das nur durch eine moralische Praxis beseitigt werden kann. Wenn jemand
drei Tage nichts gegessen hat, so thue ich ihm kein Unrecht, wenn ich mich um


Tolstoi und Ehering.

niemand Unrecht! und ich sage nur: ich will niemand Unrecht thun. Kann ich
nun in einem bestimmten Falle dieser Forderung in keiner andern Weise gerecht
werden als dadurch, daß ich selbst Unrecht leide, so will ich es leiden! Ist
denn aber diese Alternative durchaus unvermeidlich? Keineswegs; im Gegen¬
teil, der Fall ist weit häufiger, daß ich, um kein Unrecht zu leiden, gar uicht
nötig habe, Unrecht zu thun, ich habe vielmehr das Unrecht, das ein andrer
mir zufügt, bloß abzuwehren. Wie also, wenn jemand mir Unrecht thut? wie
soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Nicht Unrecht zu thun, schreibt die
Forderung des Rechts dem andern ebenso vor wie mir. Ich halte mich an
diese Vorschrift, der andre aber hält sich an diese Vorschrift nicht; sein Egois¬
mus treibt ihn, mich zu verletzen. Soll ich die Verletzung dulden? Die Frage
ist also hier nicht mehr die sokratische. ob es besser sei. Unrecht zu thun oder
Unrecht zu leiden; die Frage ist vielmehr, ob es besser sei, Unrecht zu leiden
oder das Unrecht abwehren? Diese Abwehr ist aber nicht mehr ein bloß
Passives Verhalten, sondern »vtwcudig eine Thätigkeit. Das Recht verlangt
nun diese Thätigkeit, Jhering fordert sie mit allem Nachdruck, aller Enschieden-
heit. Tolstoi aber (und dies ist der Punkt, worin er gestützt auf die Lehre
der Bergpredigt über die sokratische Ethik hinausgeht) lehrt auch in diesem
Falle: Widerstrebe nicht dem Übel! Wenn man dir einen Schlag auf den
einen Backen giebt, so halte auch den andern hin u. s. w.

Ein Widerstreit zwischen Recht und Moral ist also, wie man sieht, gar
wohl möglich, und er ist so alt wie das Christentum; denn verlangt auf der
eiuen Seite Tolstoi nichts andres, als was in der Bergpredigt gelehrt wird,
so haben ja ans der andern Seite die Menschen der frühern Jahrhunderte wie
die der Gegenwart auch ohne Iherings Ermunterung für ihre Rechte stets
wacker gekciinpft und jeden Angriff eines Gegners kräftig abzuwehren gesucht.
Könnte es denn nun nicht ebenso weiter gehen, wie es bisher gegangen ist? Ver¬
mutlich, obwohl es gerade das ist, was Tolstoi leugnet. Hier handelt es sich
jedoch nicht darum, wie es weiter gehen wird oder wie es weiter gehen soll,
sondern darum, wie ein denkender Mensch, der bestrebt ist, keine Dunkelheit des
Geistes bestehen zu lassen, über eine Frage, deren Wichtigkeit niemand leugnen
wird, mit sich ins Klare kommen könne.

Daß das Recht allein, ohne Moral, zur Lebensführung nicht ausreicht,
das fühlt man wohl mehr oder minder, wenn man es sich auch uoch nicht klar
gemacht hat; es läßt sich aber durchaus Kar machen. Nehmen wir an (und
dies ist gewiß eine ideale Voraussetzung), die ganze Gesellschaft bestünde aus
lauter rechtlich gesinnten Menschen, so könnte sie doch nicht bestehen, ohne daß
dabei Millionen vou Menschen zu Grunde gehen. Wenn auch kein Mensch dem
andern das geringste Unrecht thut, bleibt noch immer sehr viel Unglück übrig,
das nur durch eine moralische Praxis beseitigt werden kann. Wenn jemand
drei Tage nichts gegessen hat, so thue ich ihm kein Unrecht, wenn ich mich um


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[0411] Tolstoi und Ehering. niemand Unrecht! und ich sage nur: ich will niemand Unrecht thun. Kann ich nun in einem bestimmten Falle dieser Forderung in keiner andern Weise gerecht werden als dadurch, daß ich selbst Unrecht leide, so will ich es leiden! Ist denn aber diese Alternative durchaus unvermeidlich? Keineswegs; im Gegen¬ teil, der Fall ist weit häufiger, daß ich, um kein Unrecht zu leiden, gar uicht nötig habe, Unrecht zu thun, ich habe vielmehr das Unrecht, das ein andrer mir zufügt, bloß abzuwehren. Wie also, wenn jemand mir Unrecht thut? wie soll ich mich ihm gegenüber verhalten? Nicht Unrecht zu thun, schreibt die Forderung des Rechts dem andern ebenso vor wie mir. Ich halte mich an diese Vorschrift, der andre aber hält sich an diese Vorschrift nicht; sein Egois¬ mus treibt ihn, mich zu verletzen. Soll ich die Verletzung dulden? Die Frage ist also hier nicht mehr die sokratische. ob es besser sei. Unrecht zu thun oder Unrecht zu leiden; die Frage ist vielmehr, ob es besser sei, Unrecht zu leiden oder das Unrecht abwehren? Diese Abwehr ist aber nicht mehr ein bloß Passives Verhalten, sondern »vtwcudig eine Thätigkeit. Das Recht verlangt nun diese Thätigkeit, Jhering fordert sie mit allem Nachdruck, aller Enschieden- heit. Tolstoi aber (und dies ist der Punkt, worin er gestützt auf die Lehre der Bergpredigt über die sokratische Ethik hinausgeht) lehrt auch in diesem Falle: Widerstrebe nicht dem Übel! Wenn man dir einen Schlag auf den einen Backen giebt, so halte auch den andern hin u. s. w. Ein Widerstreit zwischen Recht und Moral ist also, wie man sieht, gar wohl möglich, und er ist so alt wie das Christentum; denn verlangt auf der eiuen Seite Tolstoi nichts andres, als was in der Bergpredigt gelehrt wird, so haben ja ans der andern Seite die Menschen der frühern Jahrhunderte wie die der Gegenwart auch ohne Iherings Ermunterung für ihre Rechte stets wacker gekciinpft und jeden Angriff eines Gegners kräftig abzuwehren gesucht. Könnte es denn nun nicht ebenso weiter gehen, wie es bisher gegangen ist? Ver¬ mutlich, obwohl es gerade das ist, was Tolstoi leugnet. Hier handelt es sich jedoch nicht darum, wie es weiter gehen wird oder wie es weiter gehen soll, sondern darum, wie ein denkender Mensch, der bestrebt ist, keine Dunkelheit des Geistes bestehen zu lassen, über eine Frage, deren Wichtigkeit niemand leugnen wird, mit sich ins Klare kommen könne. Daß das Recht allein, ohne Moral, zur Lebensführung nicht ausreicht, das fühlt man wohl mehr oder minder, wenn man es sich auch uoch nicht klar gemacht hat; es läßt sich aber durchaus Kar machen. Nehmen wir an (und dies ist gewiß eine ideale Voraussetzung), die ganze Gesellschaft bestünde aus lauter rechtlich gesinnten Menschen, so könnte sie doch nicht bestehen, ohne daß dabei Millionen vou Menschen zu Grunde gehen. Wenn auch kein Mensch dem andern das geringste Unrecht thut, bleibt noch immer sehr viel Unglück übrig, das nur durch eine moralische Praxis beseitigt werden kann. Wenn jemand drei Tage nichts gegessen hat, so thue ich ihm kein Unrecht, wenn ich mich um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/411>, abgerufen am 27.07.2024.