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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne,

sellschaft, von der persönlichen Freiheit, von der plebejischen Rechtschaffenheit
der Menge und von dem Adel der Leidenschaft.

Seit jenem Tage kam er nur selten mehr zu seinen fürsorglichen Verwandten,
Frau Boye aber sah ihn umso häufiger.




Siebentes Aapitel.

Es war an einem Frühlingsabend, die Sonne schien rot in das Zimmer,
sie war gerade im Begriff, unterzugehen. Die Flügel der Mühle da oben auf
dem Wall warfen ihre Schatten auf die Fensterscheiben und auf die Wände
des Zimmers, kommend, schwindend, in einförmigen Wechsel von Licht und
Dämmerung, einen Augenblick Dämmerung, zwei Augenblicke Licht.

Am Fenster saß Ricks Lyhne und starrte durch die bronzedunkeln Ulmen
des Walles auf zu der Glut der Wolken. Er war außerhalb der Stadt ge¬
wesen, unter frischbelaubten Buchen, zwischen grünen Roggenfeldern und auf
buntblumigen Wiesen; alles war so leicht und licht gewesen, der Himmel so
blau, der Sund so blank, und die Frauen, denen er begegnete, so wunderbar
schön. singend war er den Waldweg entlang gegangen, dann verstummten
die Worte seines Gesanges, dann legte sich der Rhythmus, dann erstarben die
Töne, und das Schweigen überfiel ihn wie ein Schwindel. Er schloß die Augen,
aber er merkte trotzdem, wie das Licht sich in ihn einsog und ihm durch alle
Nerven strömte, während die kühl berauschende Luft bei jedem Atemzuge das
sonderbar gelähmte Blut in immer ungestümerer Kraft durch die vor Schwäche
zitternden Adern trieb, und es überkam ihn ein Gefühl, als ob all dies Wimmelnde,
Berstende, sprossende, Erzeugende in der Frühlingsnatur um ihn her -- als
ob es sich in ihm zu einem einzigen, lauten Ruf zu vereinigen suchte; und es
dürstete ihn nach diesem Ruf, er lauschte, bis sein Lauschen sich in ein unklares,
schwellendes Sehnen verwandelte.

Er war seines eignen Ichs müde, ach so müde der kalten Gedanken und
Hirngespinnste. Das Leben selbst ein Gedicht! mußte er erkennen und sich zu¬
rufen. Nicht, wenn man beständig umher ging und an seinem Leben dichtete,
statt es zu leben. Wie war es doch inhaltslos, leer, leer, leer! Dies Jagen
nach sich selber, dies genaue Beobachten der eignen Spur, und immer im Kreise
sich drehend; dies sich zum Schein hinausstürzen in den Strom des Lebens,
während man doch gleichzeitig dasaß und nach sich selber angelte, sich selber in
irgend einer seltsamen Vermummung auffischte! Wenn es doch über ihn kommen
wollte, das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, sodaß er es nicht mehr dichtete,
sondern daß es aus ihm eine Dichtung machte!

Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er
war im innersten Innern bange vor dem Gewaltigen, das man Leidenschaft


Ricks Lyhne,

sellschaft, von der persönlichen Freiheit, von der plebejischen Rechtschaffenheit
der Menge und von dem Adel der Leidenschaft.

Seit jenem Tage kam er nur selten mehr zu seinen fürsorglichen Verwandten,
Frau Boye aber sah ihn umso häufiger.




Siebentes Aapitel.

Es war an einem Frühlingsabend, die Sonne schien rot in das Zimmer,
sie war gerade im Begriff, unterzugehen. Die Flügel der Mühle da oben auf
dem Wall warfen ihre Schatten auf die Fensterscheiben und auf die Wände
des Zimmers, kommend, schwindend, in einförmigen Wechsel von Licht und
Dämmerung, einen Augenblick Dämmerung, zwei Augenblicke Licht.

Am Fenster saß Ricks Lyhne und starrte durch die bronzedunkeln Ulmen
des Walles auf zu der Glut der Wolken. Er war außerhalb der Stadt ge¬
wesen, unter frischbelaubten Buchen, zwischen grünen Roggenfeldern und auf
buntblumigen Wiesen; alles war so leicht und licht gewesen, der Himmel so
blau, der Sund so blank, und die Frauen, denen er begegnete, so wunderbar
schön. singend war er den Waldweg entlang gegangen, dann verstummten
die Worte seines Gesanges, dann legte sich der Rhythmus, dann erstarben die
Töne, und das Schweigen überfiel ihn wie ein Schwindel. Er schloß die Augen,
aber er merkte trotzdem, wie das Licht sich in ihn einsog und ihm durch alle
Nerven strömte, während die kühl berauschende Luft bei jedem Atemzuge das
sonderbar gelähmte Blut in immer ungestümerer Kraft durch die vor Schwäche
zitternden Adern trieb, und es überkam ihn ein Gefühl, als ob all dies Wimmelnde,
Berstende, sprossende, Erzeugende in der Frühlingsnatur um ihn her — als
ob es sich in ihm zu einem einzigen, lauten Ruf zu vereinigen suchte; und es
dürstete ihn nach diesem Ruf, er lauschte, bis sein Lauschen sich in ein unklares,
schwellendes Sehnen verwandelte.

Er war seines eignen Ichs müde, ach so müde der kalten Gedanken und
Hirngespinnste. Das Leben selbst ein Gedicht! mußte er erkennen und sich zu¬
rufen. Nicht, wenn man beständig umher ging und an seinem Leben dichtete,
statt es zu leben. Wie war es doch inhaltslos, leer, leer, leer! Dies Jagen
nach sich selber, dies genaue Beobachten der eignen Spur, und immer im Kreise
sich drehend; dies sich zum Schein hinausstürzen in den Strom des Lebens,
während man doch gleichzeitig dasaß und nach sich selber angelte, sich selber in
irgend einer seltsamen Vermummung auffischte! Wenn es doch über ihn kommen
wollte, das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, sodaß er es nicht mehr dichtete,
sondern daß es aus ihm eine Dichtung machte!

Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er
war im innersten Innern bange vor dem Gewaltigen, das man Leidenschaft


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[0388] Ricks Lyhne, sellschaft, von der persönlichen Freiheit, von der plebejischen Rechtschaffenheit der Menge und von dem Adel der Leidenschaft. Seit jenem Tage kam er nur selten mehr zu seinen fürsorglichen Verwandten, Frau Boye aber sah ihn umso häufiger. Siebentes Aapitel. Es war an einem Frühlingsabend, die Sonne schien rot in das Zimmer, sie war gerade im Begriff, unterzugehen. Die Flügel der Mühle da oben auf dem Wall warfen ihre Schatten auf die Fensterscheiben und auf die Wände des Zimmers, kommend, schwindend, in einförmigen Wechsel von Licht und Dämmerung, einen Augenblick Dämmerung, zwei Augenblicke Licht. Am Fenster saß Ricks Lyhne und starrte durch die bronzedunkeln Ulmen des Walles auf zu der Glut der Wolken. Er war außerhalb der Stadt ge¬ wesen, unter frischbelaubten Buchen, zwischen grünen Roggenfeldern und auf buntblumigen Wiesen; alles war so leicht und licht gewesen, der Himmel so blau, der Sund so blank, und die Frauen, denen er begegnete, so wunderbar schön. singend war er den Waldweg entlang gegangen, dann verstummten die Worte seines Gesanges, dann legte sich der Rhythmus, dann erstarben die Töne, und das Schweigen überfiel ihn wie ein Schwindel. Er schloß die Augen, aber er merkte trotzdem, wie das Licht sich in ihn einsog und ihm durch alle Nerven strömte, während die kühl berauschende Luft bei jedem Atemzuge das sonderbar gelähmte Blut in immer ungestümerer Kraft durch die vor Schwäche zitternden Adern trieb, und es überkam ihn ein Gefühl, als ob all dies Wimmelnde, Berstende, sprossende, Erzeugende in der Frühlingsnatur um ihn her — als ob es sich in ihm zu einem einzigen, lauten Ruf zu vereinigen suchte; und es dürstete ihn nach diesem Ruf, er lauschte, bis sein Lauschen sich in ein unklares, schwellendes Sehnen verwandelte. Er war seines eignen Ichs müde, ach so müde der kalten Gedanken und Hirngespinnste. Das Leben selbst ein Gedicht! mußte er erkennen und sich zu¬ rufen. Nicht, wenn man beständig umher ging und an seinem Leben dichtete, statt es zu leben. Wie war es doch inhaltslos, leer, leer, leer! Dies Jagen nach sich selber, dies genaue Beobachten der eignen Spur, und immer im Kreise sich drehend; dies sich zum Schein hinausstürzen in den Strom des Lebens, während man doch gleichzeitig dasaß und nach sich selber angelte, sich selber in irgend einer seltsamen Vermummung auffischte! Wenn es doch über ihn kommen wollte, das Leben, die Liebe, die Leidenschaft, sodaß er es nicht mehr dichtete, sondern daß es aus ihm eine Dichtung machte! Unwillkürlich machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Er war im innersten Innern bange vor dem Gewaltigen, das man Leidenschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/388>, abgerufen am 27.07.2024.