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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

tragen, und nichts in dem Leben, das später gelebt wird, kann auch nur einen
Tag, eine Stunde von dem Leben auslöschen, das gelebt worden ist.

Für Ricks erhielt die Welt in jenen Tagen ein ganz verändertes Aussehen.
Seine geheimnisvollster, verschämtesten Gedanken hörte er jetzt von einem Chor der
verschiedenartigsten Personen klar und deutlich aussprechen; seine eigentümlichen
Anschauungen lagen nicht mehr wie eine neblige Landschaft vor ihm, er sah
diese Landschaft jetzt ohne Schleier in grellen, harten, tageshellen Farben bis
in die geringsten Einzelheiten bloßgelegt, von zahllosen Wegen durchschnitten
und eine wimmelnde Volksmenge auf diesen Wegen -- das Phantastische war
handgreiflich geworden!

Er war nicht länger ein einsamer Märchenkönig, der über Länder herrschte,
die er nur im Traum erschaffen hatte, nein, er war einer in der Schar, ein
Mann in der Schar, ein Soldat im Solde der Idee, im Solde des Neuen.
Da war ein Schwert für seine Hand, eine Fahne, der er folgen konnte.

Ricks Lyhnes Verwandte in Kopenhagen, und besonders der alte Etats¬
rat, waren gar nicht zufrieden mit dem Umgange, den der junge Student sich er¬
wählt hatte. Es waren nicht so sehr die neuen Ideen, die ihnen Kummer be¬
reiteten, als die Thatsache, daß einzelne von den jungen Menschen der Ansicht
waren, daß langes Haar, hohe Jagdsticfel und ein leichter Anstrich von Un-
sauberkeit den neuen Ideen zum Vorteil gereichten, und obwohl Ricks selber in
dieser Hinsicht nicht fanatisch war, berührte es sie doch unangenehm, wenn sie
ihm, und noch weit unangenehmer, wenn ihre Bekannten ihm in der Gesellschaft
von Jünglingen dieses Schlages begegneten. Aber das war doch im Grunde
noch nichts gegenüber der Thatsache, daß er so viel in Frau Boyes Hause ver¬
kehrte und mit ihr und ihrer blassen Nichte ins Theater ging.

Mit Bestimmtheit konnte man Frau Boye freilich nichts übles nachsagen.
Aber man sprach über sie. Und zwar auf mancherlei Art. Sie war aus guter
Familie, eine geborne Konnerog, und die Konnerogs gehörten zu den ältesten
und vornehmsten Patrizierfamilien der Stadt. Aber sie hatte Mit ihnen ge¬
brochen. Einige behaupteten, die Veranlassung dazu sei ihr leichtsinniger Bruder
gewesen, den man nach den Kolonien geschickt hatte. Das jedoch stand fest, der
Bruch war ein vollständiger, und man erzählte sich sogar, daß der alte Konnerog
sie verflucht und dann einen Anfall seines bösen Frühlingsafthmas bekommen habe.

Dies alles hatte sich zugetragen, nachdem sie Witwe geworden war.

Ihr Mann war Apotheker gewesen, ^ssössor Mg.ima.om6 und Ritter des
Dcmebrog. Als er starb, war er sechzig Jahre alt und Besitzer von anderthalb
Tonnen Goldes. Soviel man wußte, hatten sie sehr gut mit einander gelebt.
Im Anfang der Ehe, während der ersten drei Jahre, war der alternde Mann
sehr verliebt gewesen, später lebte jedes mehr für sich: er widmete sich eifrig
seinem Garten und seinem Herrenklub, in welchem er zu glänzen suchte; sie war
mit Theater, Romanzenmusik und deutscher Poesie beschäftigt. Dann starb er.


Ricks Lyhne.

tragen, und nichts in dem Leben, das später gelebt wird, kann auch nur einen
Tag, eine Stunde von dem Leben auslöschen, das gelebt worden ist.

Für Ricks erhielt die Welt in jenen Tagen ein ganz verändertes Aussehen.
Seine geheimnisvollster, verschämtesten Gedanken hörte er jetzt von einem Chor der
verschiedenartigsten Personen klar und deutlich aussprechen; seine eigentümlichen
Anschauungen lagen nicht mehr wie eine neblige Landschaft vor ihm, er sah
diese Landschaft jetzt ohne Schleier in grellen, harten, tageshellen Farben bis
in die geringsten Einzelheiten bloßgelegt, von zahllosen Wegen durchschnitten
und eine wimmelnde Volksmenge auf diesen Wegen — das Phantastische war
handgreiflich geworden!

Er war nicht länger ein einsamer Märchenkönig, der über Länder herrschte,
die er nur im Traum erschaffen hatte, nein, er war einer in der Schar, ein
Mann in der Schar, ein Soldat im Solde der Idee, im Solde des Neuen.
Da war ein Schwert für seine Hand, eine Fahne, der er folgen konnte.

Ricks Lyhnes Verwandte in Kopenhagen, und besonders der alte Etats¬
rat, waren gar nicht zufrieden mit dem Umgange, den der junge Student sich er¬
wählt hatte. Es waren nicht so sehr die neuen Ideen, die ihnen Kummer be¬
reiteten, als die Thatsache, daß einzelne von den jungen Menschen der Ansicht
waren, daß langes Haar, hohe Jagdsticfel und ein leichter Anstrich von Un-
sauberkeit den neuen Ideen zum Vorteil gereichten, und obwohl Ricks selber in
dieser Hinsicht nicht fanatisch war, berührte es sie doch unangenehm, wenn sie
ihm, und noch weit unangenehmer, wenn ihre Bekannten ihm in der Gesellschaft
von Jünglingen dieses Schlages begegneten. Aber das war doch im Grunde
noch nichts gegenüber der Thatsache, daß er so viel in Frau Boyes Hause ver¬
kehrte und mit ihr und ihrer blassen Nichte ins Theater ging.

Mit Bestimmtheit konnte man Frau Boye freilich nichts übles nachsagen.
Aber man sprach über sie. Und zwar auf mancherlei Art. Sie war aus guter
Familie, eine geborne Konnerog, und die Konnerogs gehörten zu den ältesten
und vornehmsten Patrizierfamilien der Stadt. Aber sie hatte Mit ihnen ge¬
brochen. Einige behaupteten, die Veranlassung dazu sei ihr leichtsinniger Bruder
gewesen, den man nach den Kolonien geschickt hatte. Das jedoch stand fest, der
Bruch war ein vollständiger, und man erzählte sich sogar, daß der alte Konnerog
sie verflucht und dann einen Anfall seines bösen Frühlingsafthmas bekommen habe.

Dies alles hatte sich zugetragen, nachdem sie Witwe geworden war.

Ihr Mann war Apotheker gewesen, ^ssössor Mg.ima.om6 und Ritter des
Dcmebrog. Als er starb, war er sechzig Jahre alt und Besitzer von anderthalb
Tonnen Goldes. Soviel man wußte, hatten sie sehr gut mit einander gelebt.
Im Anfang der Ehe, während der ersten drei Jahre, war der alternde Mann
sehr verliebt gewesen, später lebte jedes mehr für sich: er widmete sich eifrig
seinem Garten und seinem Herrenklub, in welchem er zu glänzen suchte; sie war
mit Theater, Romanzenmusik und deutscher Poesie beschäftigt. Dann starb er.


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[0386] Ricks Lyhne. tragen, und nichts in dem Leben, das später gelebt wird, kann auch nur einen Tag, eine Stunde von dem Leben auslöschen, das gelebt worden ist. Für Ricks erhielt die Welt in jenen Tagen ein ganz verändertes Aussehen. Seine geheimnisvollster, verschämtesten Gedanken hörte er jetzt von einem Chor der verschiedenartigsten Personen klar und deutlich aussprechen; seine eigentümlichen Anschauungen lagen nicht mehr wie eine neblige Landschaft vor ihm, er sah diese Landschaft jetzt ohne Schleier in grellen, harten, tageshellen Farben bis in die geringsten Einzelheiten bloßgelegt, von zahllosen Wegen durchschnitten und eine wimmelnde Volksmenge auf diesen Wegen — das Phantastische war handgreiflich geworden! Er war nicht länger ein einsamer Märchenkönig, der über Länder herrschte, die er nur im Traum erschaffen hatte, nein, er war einer in der Schar, ein Mann in der Schar, ein Soldat im Solde der Idee, im Solde des Neuen. Da war ein Schwert für seine Hand, eine Fahne, der er folgen konnte. Ricks Lyhnes Verwandte in Kopenhagen, und besonders der alte Etats¬ rat, waren gar nicht zufrieden mit dem Umgange, den der junge Student sich er¬ wählt hatte. Es waren nicht so sehr die neuen Ideen, die ihnen Kummer be¬ reiteten, als die Thatsache, daß einzelne von den jungen Menschen der Ansicht waren, daß langes Haar, hohe Jagdsticfel und ein leichter Anstrich von Un- sauberkeit den neuen Ideen zum Vorteil gereichten, und obwohl Ricks selber in dieser Hinsicht nicht fanatisch war, berührte es sie doch unangenehm, wenn sie ihm, und noch weit unangenehmer, wenn ihre Bekannten ihm in der Gesellschaft von Jünglingen dieses Schlages begegneten. Aber das war doch im Grunde noch nichts gegenüber der Thatsache, daß er so viel in Frau Boyes Hause ver¬ kehrte und mit ihr und ihrer blassen Nichte ins Theater ging. Mit Bestimmtheit konnte man Frau Boye freilich nichts übles nachsagen. Aber man sprach über sie. Und zwar auf mancherlei Art. Sie war aus guter Familie, eine geborne Konnerog, und die Konnerogs gehörten zu den ältesten und vornehmsten Patrizierfamilien der Stadt. Aber sie hatte Mit ihnen ge¬ brochen. Einige behaupteten, die Veranlassung dazu sei ihr leichtsinniger Bruder gewesen, den man nach den Kolonien geschickt hatte. Das jedoch stand fest, der Bruch war ein vollständiger, und man erzählte sich sogar, daß der alte Konnerog sie verflucht und dann einen Anfall seines bösen Frühlingsafthmas bekommen habe. Dies alles hatte sich zugetragen, nachdem sie Witwe geworden war. Ihr Mann war Apotheker gewesen, ^ssössor Mg.ima.om6 und Ritter des Dcmebrog. Als er starb, war er sechzig Jahre alt und Besitzer von anderthalb Tonnen Goldes. Soviel man wußte, hatten sie sehr gut mit einander gelebt. Im Anfang der Ehe, während der ersten drei Jahre, war der alternde Mann sehr verliebt gewesen, später lebte jedes mehr für sich: er widmete sich eifrig seinem Garten und seinem Herrenklub, in welchem er zu glänzen suchte; sie war mit Theater, Romanzenmusik und deutscher Poesie beschäftigt. Dann starb er.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/386>, abgerufen am 27.07.2024.