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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

richtet er über seine Vergangenheit als Prokurator in Wetzlar. Dort sei er
durch Schlemmen im Essen und Trinken arm geworden; nicht genng damit, soll
er sich durch geschlechtliche Ausschweifung oft und schwer vergangen, unter andern:
ein Bürger ihn bei seiner Frau ertappt und seiner Anklageschrift die ihm ab¬
gerissene Perücke als Beweis beigelegt haben. Und einen solchen Klatsch wagt
ein Mann, den man für streng sittlich halten soll, im Ernst niederzuschreiben,
weil sein Haß gegen Textor ihn eben den frechsten Verleumdungen zugänglich
machte. So wagte er auch dessen Gattin der schlimmsten Verletzung ihrer
Frauenehre zu zeihen. Dem Frommen war eben nichts heilig als sein eignes
Streben nach dem Himmel. Eine Folge der Armut, in welcher Textor nach
Frankfurt zurückgekehrt sei, soll auch seine und seiner Frau Bestechlichkeit ge¬
wesen sein. Solche schwere Beschuldigungen wird sich kein wahrhaft sittlicher
Mann ohne die zwingendsten Beweise gestatten, am wenigsten ohne genaue An¬
gabe derselben für die Nachwelt aufzeichnen. Verdächtigungen wegen Bestechung
waren damals so allgemein, daß selbst Senckenbergs Bruder in Wien ihnen
nicht entgehen konnte. Auch der Modesucht wird Textor beschuldigt. Dem
Beispiele Lersners folgend, soll er ohne das Krügelchen auf dem schwarzen
Rathauskleide im Römer erschienen sein; das war freilich in Senckenbergs Augen,
der doch selbst immer nett gekleidet ging, ein großes Verbrechen, obgleich Textor
das schwarze Ratsherrnkleid nicht aufgab, in welchem er sich auch 1763 mit
dem Krügelchen und der goldnen Kette malen ließ. Daran schließt sich der
arge Vormurf, er und andre ihm ähnliche "liebten Pläsanterie, wollten die alten
Bürger exterminiren, und dagegen lüderliche, voluptueuse, unachtsame Bürger
und Lumpen haben, die keine Ehre hätten, sich sudeln und wie Esel traktiren
ließen." Kann man unwürdiger verleumden! Auch daß die Familie des Schult¬
heißen bürgerfreundlich und nicht stolz war, muß sie büßen. Eine Frau, die
sich ehrlich mit einem kleinen Kattungeschäft ernährt, ist Freundin der Stadt-
schultheißin gewesen, ja diese und ihre Kinder haben im Jahre 1761 nebst
mehreren Natsgliedern einem Ball auf der Hochzeit eines Zimmermannes bei¬
gewohnt. Wie wenig Textors Gattin sich überhob, zeigt auch eine andre Ge¬
schichte, die Senckenberg deshalb erzählt, weil der Adel dabei eine "Nase" er¬
halten hatte. Als der Herzog Anton Ulrich von Meiningen sich 1753 längere
Zeit in Frankfurt aufhielt, wurde er auch von vornehmen Damen besucht.
Einmal kam die Schultheißin, die aus Bescheidenheit nicht auf den obersten Platz
sich setzte. Dieses that die nach ihr eintretende Frau eines jungen Herrn von
Glauburg aus dem hochadlichcn Hause Alten-Limpurg. Der Herzog bemerkte dies
mit Unwillen. Als er darauf den Damen Kaffee geben ließ, befahl er laut dem
Diener, zuerst die Schultheißin zu bedienen, mit welcher er sich dann unterhielt,
indem er erklärte, ihre gebühre als der Frau des Schultheißen der erste Platz,
der Mann der Glauburger wolle ja erst noch Ratsherr werden.

(Schluß folgt.)




Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum.

richtet er über seine Vergangenheit als Prokurator in Wetzlar. Dort sei er
durch Schlemmen im Essen und Trinken arm geworden; nicht genng damit, soll
er sich durch geschlechtliche Ausschweifung oft und schwer vergangen, unter andern:
ein Bürger ihn bei seiner Frau ertappt und seiner Anklageschrift die ihm ab¬
gerissene Perücke als Beweis beigelegt haben. Und einen solchen Klatsch wagt
ein Mann, den man für streng sittlich halten soll, im Ernst niederzuschreiben,
weil sein Haß gegen Textor ihn eben den frechsten Verleumdungen zugänglich
machte. So wagte er auch dessen Gattin der schlimmsten Verletzung ihrer
Frauenehre zu zeihen. Dem Frommen war eben nichts heilig als sein eignes
Streben nach dem Himmel. Eine Folge der Armut, in welcher Textor nach
Frankfurt zurückgekehrt sei, soll auch seine und seiner Frau Bestechlichkeit ge¬
wesen sein. Solche schwere Beschuldigungen wird sich kein wahrhaft sittlicher
Mann ohne die zwingendsten Beweise gestatten, am wenigsten ohne genaue An¬
gabe derselben für die Nachwelt aufzeichnen. Verdächtigungen wegen Bestechung
waren damals so allgemein, daß selbst Senckenbergs Bruder in Wien ihnen
nicht entgehen konnte. Auch der Modesucht wird Textor beschuldigt. Dem
Beispiele Lersners folgend, soll er ohne das Krügelchen auf dem schwarzen
Rathauskleide im Römer erschienen sein; das war freilich in Senckenbergs Augen,
der doch selbst immer nett gekleidet ging, ein großes Verbrechen, obgleich Textor
das schwarze Ratsherrnkleid nicht aufgab, in welchem er sich auch 1763 mit
dem Krügelchen und der goldnen Kette malen ließ. Daran schließt sich der
arge Vormurf, er und andre ihm ähnliche „liebten Pläsanterie, wollten die alten
Bürger exterminiren, und dagegen lüderliche, voluptueuse, unachtsame Bürger
und Lumpen haben, die keine Ehre hätten, sich sudeln und wie Esel traktiren
ließen." Kann man unwürdiger verleumden! Auch daß die Familie des Schult¬
heißen bürgerfreundlich und nicht stolz war, muß sie büßen. Eine Frau, die
sich ehrlich mit einem kleinen Kattungeschäft ernährt, ist Freundin der Stadt-
schultheißin gewesen, ja diese und ihre Kinder haben im Jahre 1761 nebst
mehreren Natsgliedern einem Ball auf der Hochzeit eines Zimmermannes bei¬
gewohnt. Wie wenig Textors Gattin sich überhob, zeigt auch eine andre Ge¬
schichte, die Senckenberg deshalb erzählt, weil der Adel dabei eine „Nase" er¬
halten hatte. Als der Herzog Anton Ulrich von Meiningen sich 1753 längere
Zeit in Frankfurt aufhielt, wurde er auch von vornehmen Damen besucht.
Einmal kam die Schultheißin, die aus Bescheidenheit nicht auf den obersten Platz
sich setzte. Dieses that die nach ihr eintretende Frau eines jungen Herrn von
Glauburg aus dem hochadlichcn Hause Alten-Limpurg. Der Herzog bemerkte dies
mit Unwillen. Als er darauf den Damen Kaffee geben ließ, befahl er laut dem
Diener, zuerst die Schultheißin zu bedienen, mit welcher er sich dann unterhielt,
indem er erklärte, ihre gebühre als der Frau des Schultheißen der erste Platz,
der Mann der Glauburger wolle ja erst noch Ratsherr werden.

(Schluß folgt.)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/384>, abgerufen am 01.09.2024.