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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Die Unpopularität der Jurisprudenz.

macht, welchem Zweck es diente, als es entstand. Das Richteramt lag damals
in der Hand unwissender und arbeitsscheuer Gewalthaber, die nach Willkür ver¬
fuhren und gegen das Studium des schwierigen justinianischen Rechtsbuches einen
Abscheu hegten, für den sie auch wohl noch heutzutage in weitern Kreisen volles
Verständnis finden würden. Ohne Geistes-, ja ohne Überzeugungszwang war
damals aus der Barbarei überhaupt nicht herauszukommen. Geistige Freiheit
ohne geistigen Reichtum wird den Völkern zum Fluche, nicht zum Segen. Es
mußte also eine Zwangsmaschine erfunden werden, die den Richter nötigte, seine
Willkür aufzugeben, die Parteien anzuhören, alle wichtigen Punkte zu überlegen,
die Beweise ordentlich zu erheben und zu beachten, vor allem aber alles, was
geschah, fein säuberlich aufzuzeichnen, damit, wenn etwas vom untern Richter
verfehlt war, der höhere Richter den Mangel dick unterstreichen und unter Um¬
ständen sogar mit kirchlichen Bußen rügen konnte. Dieser Kontrolapparat ist
der päpstliche Prozeß, durch welchen die rot-g, Romg.na, der höchste Gerichtshof
des Papstes, welchem selbst Luther seine unumschränkte Anerkennung zollt, die
ganze Welt aus der tiefsten Barbarei zur Gründlichkeit langsam und mühsam
erzogen hat. Es war damals kaum denkbar, sie auf andre Weise heranzubilden.
Um aber die Rechtspflege in jeder Hinsicht am Gängelbande zu haben, ihre
Willkür gänzlich unmöglich zu machen, stellte man das Gebot auf: "Der Richter
darf nicht nach seiner oonsvientig., d. h. Überzeugung, richten, sondern nur nach
festen Beweisregeln." Am besten veranschaulicht dies dasjenige Beispiel, welches
Luthers besondern Zorn erregte. Wer zwei Zeugen wieder sich hatte, der mußte
verurteilt werden, auch wenn sie nach der Überzeugung des Richters bestochen waren,
denn man vertraute dem Ermessen des Richters ein Urteil über die Glaubwürdigkeit
der Zeugen nicht an. Man hielt es für besser, daß hundert Rechtsgenossen aus for¬
mellen Gründen nicht zu ihrem Rechte kamen, als daß Tausende der richterlichen
Willkür preisgegeben wurden. Dadurch aber war der Rabulisterei Thür und
Thor geöffnet. Der Prozeß war nun wieder ein reines Gottesgericht geworden;
nicht die Wahrheit entschied, sondern die Überlegenheit der Streiter, nur kämpfte
man jetzt nicht mehr mit scharfen Waffen, sondern mit spitzen Zungen. Daß
dieses Verfahren dem schlichten Sinne des deutschen Mannes nicht angenehm
sein konnte, liegt auf der Hand. Jener Hauptgrundsatz des päpstlichen Pro¬
zesses -- die sogenannte formelle Beweistheorie --, der den Richter an feste
Beweisregeln bindet und zwingt, unter Umständen wider seine Überzeugung zu
urteilen, ist es, über den Luther bemerkt: "Die Rechte sind darum von Gott
nicht gegeben, daß man aus Unrecht sollte Recht machen, und aus Recht Un¬
recht machen, wie die unchristlichen Juristen thun."

Wir fragen uns nun, warum nicht auch hier die strenge Wahrheitsliebe
Luthers den Sieg erfochten und das kunstvolle päpstliche Recht, wenigstens in
den protestantischen Ländern, beseitigt hat. Nichts wäre leichter gewesen, als
eine schlichte natürliche Prozeßordnung herzustellen. Es ist dies auch wieder-


Die Unpopularität der Jurisprudenz.

macht, welchem Zweck es diente, als es entstand. Das Richteramt lag damals
in der Hand unwissender und arbeitsscheuer Gewalthaber, die nach Willkür ver¬
fuhren und gegen das Studium des schwierigen justinianischen Rechtsbuches einen
Abscheu hegten, für den sie auch wohl noch heutzutage in weitern Kreisen volles
Verständnis finden würden. Ohne Geistes-, ja ohne Überzeugungszwang war
damals aus der Barbarei überhaupt nicht herauszukommen. Geistige Freiheit
ohne geistigen Reichtum wird den Völkern zum Fluche, nicht zum Segen. Es
mußte also eine Zwangsmaschine erfunden werden, die den Richter nötigte, seine
Willkür aufzugeben, die Parteien anzuhören, alle wichtigen Punkte zu überlegen,
die Beweise ordentlich zu erheben und zu beachten, vor allem aber alles, was
geschah, fein säuberlich aufzuzeichnen, damit, wenn etwas vom untern Richter
verfehlt war, der höhere Richter den Mangel dick unterstreichen und unter Um¬
ständen sogar mit kirchlichen Bußen rügen konnte. Dieser Kontrolapparat ist
der päpstliche Prozeß, durch welchen die rot-g, Romg.na, der höchste Gerichtshof
des Papstes, welchem selbst Luther seine unumschränkte Anerkennung zollt, die
ganze Welt aus der tiefsten Barbarei zur Gründlichkeit langsam und mühsam
erzogen hat. Es war damals kaum denkbar, sie auf andre Weise heranzubilden.
Um aber die Rechtspflege in jeder Hinsicht am Gängelbande zu haben, ihre
Willkür gänzlich unmöglich zu machen, stellte man das Gebot auf: „Der Richter
darf nicht nach seiner oonsvientig., d. h. Überzeugung, richten, sondern nur nach
festen Beweisregeln." Am besten veranschaulicht dies dasjenige Beispiel, welches
Luthers besondern Zorn erregte. Wer zwei Zeugen wieder sich hatte, der mußte
verurteilt werden, auch wenn sie nach der Überzeugung des Richters bestochen waren,
denn man vertraute dem Ermessen des Richters ein Urteil über die Glaubwürdigkeit
der Zeugen nicht an. Man hielt es für besser, daß hundert Rechtsgenossen aus for¬
mellen Gründen nicht zu ihrem Rechte kamen, als daß Tausende der richterlichen
Willkür preisgegeben wurden. Dadurch aber war der Rabulisterei Thür und
Thor geöffnet. Der Prozeß war nun wieder ein reines Gottesgericht geworden;
nicht die Wahrheit entschied, sondern die Überlegenheit der Streiter, nur kämpfte
man jetzt nicht mehr mit scharfen Waffen, sondern mit spitzen Zungen. Daß
dieses Verfahren dem schlichten Sinne des deutschen Mannes nicht angenehm
sein konnte, liegt auf der Hand. Jener Hauptgrundsatz des päpstlichen Pro¬
zesses — die sogenannte formelle Beweistheorie —, der den Richter an feste
Beweisregeln bindet und zwingt, unter Umständen wider seine Überzeugung zu
urteilen, ist es, über den Luther bemerkt: „Die Rechte sind darum von Gott
nicht gegeben, daß man aus Unrecht sollte Recht machen, und aus Recht Un¬
recht machen, wie die unchristlichen Juristen thun."

Wir fragen uns nun, warum nicht auch hier die strenge Wahrheitsliebe
Luthers den Sieg erfochten und das kunstvolle päpstliche Recht, wenigstens in
den protestantischen Ländern, beseitigt hat. Nichts wäre leichter gewesen, als
eine schlichte natürliche Prozeßordnung herzustellen. Es ist dies auch wieder-


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[0365] Die Unpopularität der Jurisprudenz. macht, welchem Zweck es diente, als es entstand. Das Richteramt lag damals in der Hand unwissender und arbeitsscheuer Gewalthaber, die nach Willkür ver¬ fuhren und gegen das Studium des schwierigen justinianischen Rechtsbuches einen Abscheu hegten, für den sie auch wohl noch heutzutage in weitern Kreisen volles Verständnis finden würden. Ohne Geistes-, ja ohne Überzeugungszwang war damals aus der Barbarei überhaupt nicht herauszukommen. Geistige Freiheit ohne geistigen Reichtum wird den Völkern zum Fluche, nicht zum Segen. Es mußte also eine Zwangsmaschine erfunden werden, die den Richter nötigte, seine Willkür aufzugeben, die Parteien anzuhören, alle wichtigen Punkte zu überlegen, die Beweise ordentlich zu erheben und zu beachten, vor allem aber alles, was geschah, fein säuberlich aufzuzeichnen, damit, wenn etwas vom untern Richter verfehlt war, der höhere Richter den Mangel dick unterstreichen und unter Um¬ ständen sogar mit kirchlichen Bußen rügen konnte. Dieser Kontrolapparat ist der päpstliche Prozeß, durch welchen die rot-g, Romg.na, der höchste Gerichtshof des Papstes, welchem selbst Luther seine unumschränkte Anerkennung zollt, die ganze Welt aus der tiefsten Barbarei zur Gründlichkeit langsam und mühsam erzogen hat. Es war damals kaum denkbar, sie auf andre Weise heranzubilden. Um aber die Rechtspflege in jeder Hinsicht am Gängelbande zu haben, ihre Willkür gänzlich unmöglich zu machen, stellte man das Gebot auf: „Der Richter darf nicht nach seiner oonsvientig., d. h. Überzeugung, richten, sondern nur nach festen Beweisregeln." Am besten veranschaulicht dies dasjenige Beispiel, welches Luthers besondern Zorn erregte. Wer zwei Zeugen wieder sich hatte, der mußte verurteilt werden, auch wenn sie nach der Überzeugung des Richters bestochen waren, denn man vertraute dem Ermessen des Richters ein Urteil über die Glaubwürdigkeit der Zeugen nicht an. Man hielt es für besser, daß hundert Rechtsgenossen aus for¬ mellen Gründen nicht zu ihrem Rechte kamen, als daß Tausende der richterlichen Willkür preisgegeben wurden. Dadurch aber war der Rabulisterei Thür und Thor geöffnet. Der Prozeß war nun wieder ein reines Gottesgericht geworden; nicht die Wahrheit entschied, sondern die Überlegenheit der Streiter, nur kämpfte man jetzt nicht mehr mit scharfen Waffen, sondern mit spitzen Zungen. Daß dieses Verfahren dem schlichten Sinne des deutschen Mannes nicht angenehm sein konnte, liegt auf der Hand. Jener Hauptgrundsatz des päpstlichen Pro¬ zesses — die sogenannte formelle Beweistheorie —, der den Richter an feste Beweisregeln bindet und zwingt, unter Umständen wider seine Überzeugung zu urteilen, ist es, über den Luther bemerkt: „Die Rechte sind darum von Gott nicht gegeben, daß man aus Unrecht sollte Recht machen, und aus Recht Un¬ recht machen, wie die unchristlichen Juristen thun." Wir fragen uns nun, warum nicht auch hier die strenge Wahrheitsliebe Luthers den Sieg erfochten und das kunstvolle päpstliche Recht, wenigstens in den protestantischen Ländern, beseitigt hat. Nichts wäre leichter gewesen, als eine schlichte natürliche Prozeßordnung herzustellen. Es ist dies auch wieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/365>, abgerufen am 01.09.2024.