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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Ricks Lyhne.

er betete doch nicht, sehnte er sich auch bis zu Thränen darnach, er rief trotz¬
dem nicht.

Und so blieb er auch den Tag über, denn er löste sich in bitterm Trotz
von der Art und Weise, zu sehen, auf die er durch seinen Unterricht hingeführt
worden war, und er flüchtete mit seiner Sympathie auf die Seite derer, die
vergeblich ihre Kraft dazu verwendet hatten, wieder den Stachel zu lecken.

In den Büchern, die er gelesen, und in dem, was man ihn gelehrt hatte, zogen
Gott und die Seinen -- sein Volk und seine Ideen -- daher in unaufhalt¬
samem Siegeszuge; und er hatte mit eingestimmt in den Jubel, hingerissen von
dem glückseligen Gefühl, mit zu den stolzen Legionen der Siegreichen zu zählen;
denn ist nicht der Sieg stets eine gerechte Sache, ist nicht der Sieger ein Be¬
freier, ein Förderer, ein Verbreiter des Lichts?

Jetzt aber war der Jubel in ihm verstummt, jetzt dachte er mit den Ge¬
danken des Überwundenen, fühlte mit den Herzen der Geschlagenen, und er ver¬
stand jetzt, daß, weil das siegende gut ist, darum das Unterliegende nicht
schlecht zu sein braucht, und da nahm er denn Partei für das letztere, sagte,
daß es besser, und fühlte, daß es größer sei; die Siegesstärke aber nannte er
Übermacht und Gewalt. Er nahm Partei gegen Gott, aber wie ein Vasall,
der wider seinen rechtmäßigen Herrn zu den Waffen greift, denn er glaubte
noch immer und kounte den Glauben nicht wegtrotzen.

Sein Lehrer, Herr Bigum, war nicht die Persönlichkeit, die seine Seele
wieder zurückgewinnen konnte. Im Gegenteil, Bigums Stimmungsphilosophie,
die es ihm möglich machte, sich für alle Seiten einer Sache zu begeistern,
heute ganz hingerissen zu sein von der einen und morgen wieder von der ent¬
gegengesetzten, führte seinen Schülern alle Dogmen vor. Er war wohl im
Grnnde ein christlicher Mann und würde, wenn es überhaupt möglich gewesen
wäre, eine bestimmte Antwort von ihm darüber zu erlangen, was für ihn das
Feste in all dem Schwankenden sei, wohl auch gesagt haben, daß es der
Glaube und die Lehre der lutherisch-evangelischen Kirche sei oder doch etwas
ähnliches; aber er war nun einmal durchaus nicht dazu angethan, seine
Schüler auf dem genau begrenzten Wege des Kirchenglaubens vorwärts zu
treiben und ihnen bei jedem Schritt zuzurufen, daß das geringste Abweichen
den Weg zu Lüge und Dunkel, zu Seelenverirrung und zur Hölle bedeute;
denn die leidenschaftliche Fürsorge der Strenggläubigen für Buchstaben und
Titelchen ging ihm völlig ab. Er war nämlich auf jene künstlerische, überlegene
Art und Weise religiös, wie so begabte Menschen es sich gestatten zu können
glauben; sie schrecken nicht vor ein wenig Harmonisirung zurück und lassen sich
leicht zu halb unwillkürlichen Umdichtungen und Änderungen verleiten, weil sie
bei allem, was es nun auch sei, zuerst ihre Persönlichkeit berücksichtigen, und
weil sie, in welche Sphären sie auch hineinfliegen, vor allen Dingen das Brausen
ihrer eignen Geistesschivingen hören müssen.


Ricks Lyhne.

er betete doch nicht, sehnte er sich auch bis zu Thränen darnach, er rief trotz¬
dem nicht.

Und so blieb er auch den Tag über, denn er löste sich in bitterm Trotz
von der Art und Weise, zu sehen, auf die er durch seinen Unterricht hingeführt
worden war, und er flüchtete mit seiner Sympathie auf die Seite derer, die
vergeblich ihre Kraft dazu verwendet hatten, wieder den Stachel zu lecken.

In den Büchern, die er gelesen, und in dem, was man ihn gelehrt hatte, zogen
Gott und die Seinen — sein Volk und seine Ideen — daher in unaufhalt¬
samem Siegeszuge; und er hatte mit eingestimmt in den Jubel, hingerissen von
dem glückseligen Gefühl, mit zu den stolzen Legionen der Siegreichen zu zählen;
denn ist nicht der Sieg stets eine gerechte Sache, ist nicht der Sieger ein Be¬
freier, ein Förderer, ein Verbreiter des Lichts?

Jetzt aber war der Jubel in ihm verstummt, jetzt dachte er mit den Ge¬
danken des Überwundenen, fühlte mit den Herzen der Geschlagenen, und er ver¬
stand jetzt, daß, weil das siegende gut ist, darum das Unterliegende nicht
schlecht zu sein braucht, und da nahm er denn Partei für das letztere, sagte,
daß es besser, und fühlte, daß es größer sei; die Siegesstärke aber nannte er
Übermacht und Gewalt. Er nahm Partei gegen Gott, aber wie ein Vasall,
der wider seinen rechtmäßigen Herrn zu den Waffen greift, denn er glaubte
noch immer und kounte den Glauben nicht wegtrotzen.

Sein Lehrer, Herr Bigum, war nicht die Persönlichkeit, die seine Seele
wieder zurückgewinnen konnte. Im Gegenteil, Bigums Stimmungsphilosophie,
die es ihm möglich machte, sich für alle Seiten einer Sache zu begeistern,
heute ganz hingerissen zu sein von der einen und morgen wieder von der ent¬
gegengesetzten, führte seinen Schülern alle Dogmen vor. Er war wohl im
Grnnde ein christlicher Mann und würde, wenn es überhaupt möglich gewesen
wäre, eine bestimmte Antwort von ihm darüber zu erlangen, was für ihn das
Feste in all dem Schwankenden sei, wohl auch gesagt haben, daß es der
Glaube und die Lehre der lutherisch-evangelischen Kirche sei oder doch etwas
ähnliches; aber er war nun einmal durchaus nicht dazu angethan, seine
Schüler auf dem genau begrenzten Wege des Kirchenglaubens vorwärts zu
treiben und ihnen bei jedem Schritt zuzurufen, daß das geringste Abweichen
den Weg zu Lüge und Dunkel, zu Seelenverirrung und zur Hölle bedeute;
denn die leidenschaftliche Fürsorge der Strenggläubigen für Buchstaben und
Titelchen ging ihm völlig ab. Er war nämlich auf jene künstlerische, überlegene
Art und Weise religiös, wie so begabte Menschen es sich gestatten zu können
glauben; sie schrecken nicht vor ein wenig Harmonisirung zurück und lassen sich
leicht zu halb unwillkürlichen Umdichtungen und Änderungen verleiten, weil sie
bei allem, was es nun auch sei, zuerst ihre Persönlichkeit berücksichtigen, und
weil sie, in welche Sphären sie auch hineinfliegen, vor allen Dingen das Brausen
ihrer eignen Geistesschivingen hören müssen.


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[0296] Ricks Lyhne. er betete doch nicht, sehnte er sich auch bis zu Thränen darnach, er rief trotz¬ dem nicht. Und so blieb er auch den Tag über, denn er löste sich in bitterm Trotz von der Art und Weise, zu sehen, auf die er durch seinen Unterricht hingeführt worden war, und er flüchtete mit seiner Sympathie auf die Seite derer, die vergeblich ihre Kraft dazu verwendet hatten, wieder den Stachel zu lecken. In den Büchern, die er gelesen, und in dem, was man ihn gelehrt hatte, zogen Gott und die Seinen — sein Volk und seine Ideen — daher in unaufhalt¬ samem Siegeszuge; und er hatte mit eingestimmt in den Jubel, hingerissen von dem glückseligen Gefühl, mit zu den stolzen Legionen der Siegreichen zu zählen; denn ist nicht der Sieg stets eine gerechte Sache, ist nicht der Sieger ein Be¬ freier, ein Förderer, ein Verbreiter des Lichts? Jetzt aber war der Jubel in ihm verstummt, jetzt dachte er mit den Ge¬ danken des Überwundenen, fühlte mit den Herzen der Geschlagenen, und er ver¬ stand jetzt, daß, weil das siegende gut ist, darum das Unterliegende nicht schlecht zu sein braucht, und da nahm er denn Partei für das letztere, sagte, daß es besser, und fühlte, daß es größer sei; die Siegesstärke aber nannte er Übermacht und Gewalt. Er nahm Partei gegen Gott, aber wie ein Vasall, der wider seinen rechtmäßigen Herrn zu den Waffen greift, denn er glaubte noch immer und kounte den Glauben nicht wegtrotzen. Sein Lehrer, Herr Bigum, war nicht die Persönlichkeit, die seine Seele wieder zurückgewinnen konnte. Im Gegenteil, Bigums Stimmungsphilosophie, die es ihm möglich machte, sich für alle Seiten einer Sache zu begeistern, heute ganz hingerissen zu sein von der einen und morgen wieder von der ent¬ gegengesetzten, führte seinen Schülern alle Dogmen vor. Er war wohl im Grnnde ein christlicher Mann und würde, wenn es überhaupt möglich gewesen wäre, eine bestimmte Antwort von ihm darüber zu erlangen, was für ihn das Feste in all dem Schwankenden sei, wohl auch gesagt haben, daß es der Glaube und die Lehre der lutherisch-evangelischen Kirche sei oder doch etwas ähnliches; aber er war nun einmal durchaus nicht dazu angethan, seine Schüler auf dem genau begrenzten Wege des Kirchenglaubens vorwärts zu treiben und ihnen bei jedem Schritt zuzurufen, daß das geringste Abweichen den Weg zu Lüge und Dunkel, zu Seelenverirrung und zur Hölle bedeute; denn die leidenschaftliche Fürsorge der Strenggläubigen für Buchstaben und Titelchen ging ihm völlig ab. Er war nämlich auf jene künstlerische, überlegene Art und Weise religiös, wie so begabte Menschen es sich gestatten zu können glauben; sie schrecken nicht vor ein wenig Harmonisirung zurück und lassen sich leicht zu halb unwillkürlichen Umdichtungen und Änderungen verleiten, weil sie bei allem, was es nun auch sei, zuerst ihre Persönlichkeit berücksichtigen, und weil sie, in welche Sphären sie auch hineinfliegen, vor allen Dingen das Brausen ihrer eignen Geistesschivingen hören müssen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/296>, abgerufen am 27.07.2024.