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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum,

München wandte sich das Glück bald wieder. Das Trauergeläute des Frank¬
furter Domes für den am 20. Januar 1745 in großer Bedrängnis verschiedenen
Kaiser hallte in manchen Herzen wieder, aber in keinem treuem als bei Textor
und seiner Familie. Doch schon mußte man die Gedanken einer baldigen neuen
Krönung zuwenden. Unter den vier Schöffen, die am 22. September neben dem
Stadtschultheißen, den beiden Bürgermeistern und einem Syndikus Kaiser Franz
auf der Bornheimer Haide empfingen, befand sich auch Textor. Am 4. Oktober
hielt er mit neun andern Abgeordneten den Thronhimmel über der zur Krönung
reitenden Majestät. Die Kaiserin Maria Theresia beschenkte alle Abgeordneten
des Magistrats mit einer ihr Bildnis tragenden schweren goldnen Kette; Textor
hielt die seine über alles wert. Die schöne Menschlichkeit, welche Maria Theresia
und ihr Gatte bei der Krönung gezeigt, hatte außerordentlich auch auf Textor,
dessen Frau und Töchter gewirkt, wenn sie auch den so gnädigen wie unglück¬
lichen Karl VII. nicht vergessen konnten.

Bei allen Ehren und Würden herrschte in Textors Hause die schlichteste
Einfachheit; die wackere, weit jüngere Gattin, die sich in seine Eigenheiten gern
fügte, und die in Zucht heranwachsenden Kinder bildeten sein höchstes Glück,
seine Erholung der Garten und die Familienfeste. Die Erziehung war bürgerlich
einfach; ein Schreib- und ein Rechenlehrer nebst einem Kandidaten des geist¬
lichen Ministeriums genügten dem Schöffen zur Ausbildung seiner Töchter;
später trat das Klavierspiel hinzu. Von den Seinigen war er verehrt und ge¬
liebt; besonders ehrwürdig erschien er den Kindern, die ihn als ein Muster des
Lebens betrachteten, durch seine Ahnungsgabe.

Der 5. September 1746, an welchem auf Lersners Verwendung der noch
nicht dreißigjährige Erasmus Senckenberg in den Rat gewählt wurde, war für
diesen der Anfang unendlichen Streites und der schändlichsten Verleumdungen.
Lersner hatte sich nicht in der Schätzung seines ungemeinen Talentes getäuscht,
nur nicht geahnt, zu welchen Frechheiten und Niederträchtigkeiten die Skandal-
sucht diesen hinreißen werde. Daß dem treuen Schöffen in seinem vicrundfünf-
Sigsten Jahre die höchste Ehre der Stadt zu teil wurde, mochte und konnte
Erasmus nicht hindern. Am 10. Angust 1747 wählte der Rat Textor zum
Reichs-, Stadt- und Gerichtsschultheißen. Noch an demselben Tage, an welchem
der Schultheiß Ochsenstein hingeschieden war, wurden die Mitglieder zu einer
außerordentlichen Sitzung auf den nächsten Morgen beschieden, aus Furcht, der
Kaiser möge, trotz seiner Anerkennung des Wahlrechtes der Stadt, sich durch
seine Vorliebe für den Reichshofrat von Barckhausen zu einem Eingriffe be¬
stimmen lassen. Diesmal verriet sich Tcxtors Weissagungsgabe fast launig.
Als der Ratsbote für seine erloschene Laterne um ein Stümpfchen Licht bat,
rief er: "Gebt ihm ein ganzes! bemüht er sich doch meinetwegen." Unter den
drei vom Rat gewählten blieb für Textor die entscheidende goldene Kugel im
Beutel zurück. Auch diese höchste Würde der Stadt änderte nichts an seinem


Grenzboten II. 1888. 34
Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum,

München wandte sich das Glück bald wieder. Das Trauergeläute des Frank¬
furter Domes für den am 20. Januar 1745 in großer Bedrängnis verschiedenen
Kaiser hallte in manchen Herzen wieder, aber in keinem treuem als bei Textor
und seiner Familie. Doch schon mußte man die Gedanken einer baldigen neuen
Krönung zuwenden. Unter den vier Schöffen, die am 22. September neben dem
Stadtschultheißen, den beiden Bürgermeistern und einem Syndikus Kaiser Franz
auf der Bornheimer Haide empfingen, befand sich auch Textor. Am 4. Oktober
hielt er mit neun andern Abgeordneten den Thronhimmel über der zur Krönung
reitenden Majestät. Die Kaiserin Maria Theresia beschenkte alle Abgeordneten
des Magistrats mit einer ihr Bildnis tragenden schweren goldnen Kette; Textor
hielt die seine über alles wert. Die schöne Menschlichkeit, welche Maria Theresia
und ihr Gatte bei der Krönung gezeigt, hatte außerordentlich auch auf Textor,
dessen Frau und Töchter gewirkt, wenn sie auch den so gnädigen wie unglück¬
lichen Karl VII. nicht vergessen konnten.

Bei allen Ehren und Würden herrschte in Textors Hause die schlichteste
Einfachheit; die wackere, weit jüngere Gattin, die sich in seine Eigenheiten gern
fügte, und die in Zucht heranwachsenden Kinder bildeten sein höchstes Glück,
seine Erholung der Garten und die Familienfeste. Die Erziehung war bürgerlich
einfach; ein Schreib- und ein Rechenlehrer nebst einem Kandidaten des geist¬
lichen Ministeriums genügten dem Schöffen zur Ausbildung seiner Töchter;
später trat das Klavierspiel hinzu. Von den Seinigen war er verehrt und ge¬
liebt; besonders ehrwürdig erschien er den Kindern, die ihn als ein Muster des
Lebens betrachteten, durch seine Ahnungsgabe.

Der 5. September 1746, an welchem auf Lersners Verwendung der noch
nicht dreißigjährige Erasmus Senckenberg in den Rat gewählt wurde, war für
diesen der Anfang unendlichen Streites und der schändlichsten Verleumdungen.
Lersner hatte sich nicht in der Schätzung seines ungemeinen Talentes getäuscht,
nur nicht geahnt, zu welchen Frechheiten und Niederträchtigkeiten die Skandal-
sucht diesen hinreißen werde. Daß dem treuen Schöffen in seinem vicrundfünf-
Sigsten Jahre die höchste Ehre der Stadt zu teil wurde, mochte und konnte
Erasmus nicht hindern. Am 10. Angust 1747 wählte der Rat Textor zum
Reichs-, Stadt- und Gerichtsschultheißen. Noch an demselben Tage, an welchem
der Schultheiß Ochsenstein hingeschieden war, wurden die Mitglieder zu einer
außerordentlichen Sitzung auf den nächsten Morgen beschieden, aus Furcht, der
Kaiser möge, trotz seiner Anerkennung des Wahlrechtes der Stadt, sich durch
seine Vorliebe für den Reichshofrat von Barckhausen zu einem Eingriffe be¬
stimmen lassen. Diesmal verriet sich Tcxtors Weissagungsgabe fast launig.
Als der Ratsbote für seine erloschene Laterne um ein Stümpfchen Licht bat,
rief er: „Gebt ihm ein ganzes! bemüht er sich doch meinetwegen." Unter den
drei vom Rat gewählten blieb für Textor die entscheidende goldene Kugel im
Beutel zurück. Auch diese höchste Würde der Stadt änderte nichts an seinem


Grenzboten II. 1888. 34
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[0273] Das Geschlecht Textor, Goethes mütterlicher Stammbaum, München wandte sich das Glück bald wieder. Das Trauergeläute des Frank¬ furter Domes für den am 20. Januar 1745 in großer Bedrängnis verschiedenen Kaiser hallte in manchen Herzen wieder, aber in keinem treuem als bei Textor und seiner Familie. Doch schon mußte man die Gedanken einer baldigen neuen Krönung zuwenden. Unter den vier Schöffen, die am 22. September neben dem Stadtschultheißen, den beiden Bürgermeistern und einem Syndikus Kaiser Franz auf der Bornheimer Haide empfingen, befand sich auch Textor. Am 4. Oktober hielt er mit neun andern Abgeordneten den Thronhimmel über der zur Krönung reitenden Majestät. Die Kaiserin Maria Theresia beschenkte alle Abgeordneten des Magistrats mit einer ihr Bildnis tragenden schweren goldnen Kette; Textor hielt die seine über alles wert. Die schöne Menschlichkeit, welche Maria Theresia und ihr Gatte bei der Krönung gezeigt, hatte außerordentlich auch auf Textor, dessen Frau und Töchter gewirkt, wenn sie auch den so gnädigen wie unglück¬ lichen Karl VII. nicht vergessen konnten. Bei allen Ehren und Würden herrschte in Textors Hause die schlichteste Einfachheit; die wackere, weit jüngere Gattin, die sich in seine Eigenheiten gern fügte, und die in Zucht heranwachsenden Kinder bildeten sein höchstes Glück, seine Erholung der Garten und die Familienfeste. Die Erziehung war bürgerlich einfach; ein Schreib- und ein Rechenlehrer nebst einem Kandidaten des geist¬ lichen Ministeriums genügten dem Schöffen zur Ausbildung seiner Töchter; später trat das Klavierspiel hinzu. Von den Seinigen war er verehrt und ge¬ liebt; besonders ehrwürdig erschien er den Kindern, die ihn als ein Muster des Lebens betrachteten, durch seine Ahnungsgabe. Der 5. September 1746, an welchem auf Lersners Verwendung der noch nicht dreißigjährige Erasmus Senckenberg in den Rat gewählt wurde, war für diesen der Anfang unendlichen Streites und der schändlichsten Verleumdungen. Lersner hatte sich nicht in der Schätzung seines ungemeinen Talentes getäuscht, nur nicht geahnt, zu welchen Frechheiten und Niederträchtigkeiten die Skandal- sucht diesen hinreißen werde. Daß dem treuen Schöffen in seinem vicrundfünf- Sigsten Jahre die höchste Ehre der Stadt zu teil wurde, mochte und konnte Erasmus nicht hindern. Am 10. Angust 1747 wählte der Rat Textor zum Reichs-, Stadt- und Gerichtsschultheißen. Noch an demselben Tage, an welchem der Schultheiß Ochsenstein hingeschieden war, wurden die Mitglieder zu einer außerordentlichen Sitzung auf den nächsten Morgen beschieden, aus Furcht, der Kaiser möge, trotz seiner Anerkennung des Wahlrechtes der Stadt, sich durch seine Vorliebe für den Reichshofrat von Barckhausen zu einem Eingriffe be¬ stimmen lassen. Diesmal verriet sich Tcxtors Weissagungsgabe fast launig. Als der Ratsbote für seine erloschene Laterne um ein Stümpfchen Licht bat, rief er: „Gebt ihm ein ganzes! bemüht er sich doch meinetwegen." Unter den drei vom Rat gewählten blieb für Textor die entscheidende goldene Kugel im Beutel zurück. Auch diese höchste Würde der Stadt änderte nichts an seinem Grenzboten II. 1888. 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/273>, abgerufen am 28.07.2024.