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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Neue Romane.

des Rheines heroische Frauen. Der Fortschritt der Feindseligkeiten zwischen
Deutschland und Frankreich und auch die Bedrängnis in der eignen Familie
zur Zeit der Abwesenheit des Geliebten aus Hamburg machen Minnas Ver¬
löbnis immer verhängnisvoller. Ihr Vater, ein wankelmütiger, in seiner cha¬
rakterlosen Schwäche selbstsüchtiger Mann, hat in dieser Kriegszeit sein Ver¬
mögen eingebüßt und wird vom Bankerott bedroht; ihr heißgeliebter Bruder,
welcher mit Napoleon nach Nußland mußte, bedarf des Geldes, um heimkehren
zu können, nachdem er von der verhaßten Armee geflohen ist; eine Schwester
Minnas will heiraten; und alles dies kann nur ermöglicht werden, wenn sich
diese dazu entschließt, von dem geliebten Franzosen zu lassen und dem reichen Gro߬
händler Billow die Hand zu reichen, der bisher vergeblich um sie geworben
hat. Billow ist der verkörperte Geldmann: kein Funke Nationalgefühl glüht
i" ihm; die Wechselfälle des Krieges sind ihm nur vom Standpunkte des Kurs¬
zettels wichtig; er ist stolz darauf, eigentlich durch Erziehung und Geschäft ein
Engländer zu sein; er ist ein roher Lüstling, den nur Minnas Schönheit reizt.
Er weiß, daß sie ihn nicht liebt, sie hat es ihm ausdrücklich gesagt, gleichwohl
begehrt er sie. Den vielen auf sie einwirkenden Motiven giebt Minna endlich
nach und opfert sich ihrer Familie, indem sie sich mit Billow vermählt. Nun
nimmt sie den regsten Anteil an der patriotischen Bewegung der Stadt, die
Führer derselben kommen in ihrem Hause zusammen; während der Belagerung
richtet sie bei sich ein Spital ein, und keine Demütigung durch den rachsüchtigen
Feind wird ihr erspart. Allein ihre unwahre Ehe bringt ihr kein Heil. Billow
entzieht sich dnrch die Flucht nach England den Gefahren des Krieges und
laßt sie schutzlos zurück. Oft hatte sie daran gedacht, sich durch Selbstmord
der ganzen Lebensqual zu entziehen, allein sie hielt sich an die einmal an¬
genommene Devise: Mdlssso MiZs! Schließlich trifft sie noch mit ihrem
geliebten Henri zusammen. Sie hat erfahren, daß er ihr treu geblieben ist,
und daß ihr Vater sie durch Unterschlagung der Briefe schändlich betrogen hat.
Sie will sich nun von Billow scheiden lassen, um ganz dem Marquis in legi¬
timer Ehe angehören zu dürfen. Allein da treten alle nationalen Gegensätze
in geschlossener Phalanx auf, ihr eigner Bruder verachtet sie wegen der Liebe
zu dem nationalen Feinde, und ein Duell zwischen beiden verhindert sie nur
durch ihre Flucht und völlige Entsagung.

Hier hätte die Geschichte schließen sollen; was nun folgt, ist ein sentimental
kümmerlicher Schluß. Hericourt, der Minna nachgeeilt ist, kommt bei dem über¬
menschlich edeln Versuche, ihren ihm und ihr verhaßten Gatten aus einem im
Angesicht der Küste sträubenden Schiff zu retten, gleichzeitig mit Billow um,
und Minna bleibt allein zurück, um in langen Jahren der Einsamkeit auf
Billows Schlosse über die Tragödie ihres Lebens nachzudenken. Die Zeit
vertreibt sie sich durch Wohlthun in großem Stile.

Paul Heyse Hütte (wie z. B. im "Roman der Stiftsdame") vom Abschluß


Neue Romane.

des Rheines heroische Frauen. Der Fortschritt der Feindseligkeiten zwischen
Deutschland und Frankreich und auch die Bedrängnis in der eignen Familie
zur Zeit der Abwesenheit des Geliebten aus Hamburg machen Minnas Ver¬
löbnis immer verhängnisvoller. Ihr Vater, ein wankelmütiger, in seiner cha¬
rakterlosen Schwäche selbstsüchtiger Mann, hat in dieser Kriegszeit sein Ver¬
mögen eingebüßt und wird vom Bankerott bedroht; ihr heißgeliebter Bruder,
welcher mit Napoleon nach Nußland mußte, bedarf des Geldes, um heimkehren
zu können, nachdem er von der verhaßten Armee geflohen ist; eine Schwester
Minnas will heiraten; und alles dies kann nur ermöglicht werden, wenn sich
diese dazu entschließt, von dem geliebten Franzosen zu lassen und dem reichen Gro߬
händler Billow die Hand zu reichen, der bisher vergeblich um sie geworben
hat. Billow ist der verkörperte Geldmann: kein Funke Nationalgefühl glüht
i» ihm; die Wechselfälle des Krieges sind ihm nur vom Standpunkte des Kurs¬
zettels wichtig; er ist stolz darauf, eigentlich durch Erziehung und Geschäft ein
Engländer zu sein; er ist ein roher Lüstling, den nur Minnas Schönheit reizt.
Er weiß, daß sie ihn nicht liebt, sie hat es ihm ausdrücklich gesagt, gleichwohl
begehrt er sie. Den vielen auf sie einwirkenden Motiven giebt Minna endlich
nach und opfert sich ihrer Familie, indem sie sich mit Billow vermählt. Nun
nimmt sie den regsten Anteil an der patriotischen Bewegung der Stadt, die
Führer derselben kommen in ihrem Hause zusammen; während der Belagerung
richtet sie bei sich ein Spital ein, und keine Demütigung durch den rachsüchtigen
Feind wird ihr erspart. Allein ihre unwahre Ehe bringt ihr kein Heil. Billow
entzieht sich dnrch die Flucht nach England den Gefahren des Krieges und
laßt sie schutzlos zurück. Oft hatte sie daran gedacht, sich durch Selbstmord
der ganzen Lebensqual zu entziehen, allein sie hielt sich an die einmal an¬
genommene Devise: Mdlssso MiZs! Schließlich trifft sie noch mit ihrem
geliebten Henri zusammen. Sie hat erfahren, daß er ihr treu geblieben ist,
und daß ihr Vater sie durch Unterschlagung der Briefe schändlich betrogen hat.
Sie will sich nun von Billow scheiden lassen, um ganz dem Marquis in legi¬
timer Ehe angehören zu dürfen. Allein da treten alle nationalen Gegensätze
in geschlossener Phalanx auf, ihr eigner Bruder verachtet sie wegen der Liebe
zu dem nationalen Feinde, und ein Duell zwischen beiden verhindert sie nur
durch ihre Flucht und völlige Entsagung.

Hier hätte die Geschichte schließen sollen; was nun folgt, ist ein sentimental
kümmerlicher Schluß. Hericourt, der Minna nachgeeilt ist, kommt bei dem über¬
menschlich edeln Versuche, ihren ihm und ihr verhaßten Gatten aus einem im
Angesicht der Küste sträubenden Schiff zu retten, gleichzeitig mit Billow um,
und Minna bleibt allein zurück, um in langen Jahren der Einsamkeit auf
Billows Schlosse über die Tragödie ihres Lebens nachzudenken. Die Zeit
vertreibt sie sich durch Wohlthun in großem Stile.

Paul Heyse Hütte (wie z. B. im „Roman der Stiftsdame") vom Abschluß


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[0235] Neue Romane. des Rheines heroische Frauen. Der Fortschritt der Feindseligkeiten zwischen Deutschland und Frankreich und auch die Bedrängnis in der eignen Familie zur Zeit der Abwesenheit des Geliebten aus Hamburg machen Minnas Ver¬ löbnis immer verhängnisvoller. Ihr Vater, ein wankelmütiger, in seiner cha¬ rakterlosen Schwäche selbstsüchtiger Mann, hat in dieser Kriegszeit sein Ver¬ mögen eingebüßt und wird vom Bankerott bedroht; ihr heißgeliebter Bruder, welcher mit Napoleon nach Nußland mußte, bedarf des Geldes, um heimkehren zu können, nachdem er von der verhaßten Armee geflohen ist; eine Schwester Minnas will heiraten; und alles dies kann nur ermöglicht werden, wenn sich diese dazu entschließt, von dem geliebten Franzosen zu lassen und dem reichen Gro߬ händler Billow die Hand zu reichen, der bisher vergeblich um sie geworben hat. Billow ist der verkörperte Geldmann: kein Funke Nationalgefühl glüht i» ihm; die Wechselfälle des Krieges sind ihm nur vom Standpunkte des Kurs¬ zettels wichtig; er ist stolz darauf, eigentlich durch Erziehung und Geschäft ein Engländer zu sein; er ist ein roher Lüstling, den nur Minnas Schönheit reizt. Er weiß, daß sie ihn nicht liebt, sie hat es ihm ausdrücklich gesagt, gleichwohl begehrt er sie. Den vielen auf sie einwirkenden Motiven giebt Minna endlich nach und opfert sich ihrer Familie, indem sie sich mit Billow vermählt. Nun nimmt sie den regsten Anteil an der patriotischen Bewegung der Stadt, die Führer derselben kommen in ihrem Hause zusammen; während der Belagerung richtet sie bei sich ein Spital ein, und keine Demütigung durch den rachsüchtigen Feind wird ihr erspart. Allein ihre unwahre Ehe bringt ihr kein Heil. Billow entzieht sich dnrch die Flucht nach England den Gefahren des Krieges und laßt sie schutzlos zurück. Oft hatte sie daran gedacht, sich durch Selbstmord der ganzen Lebensqual zu entziehen, allein sie hielt sich an die einmal an¬ genommene Devise: Mdlssso MiZs! Schließlich trifft sie noch mit ihrem geliebten Henri zusammen. Sie hat erfahren, daß er ihr treu geblieben ist, und daß ihr Vater sie durch Unterschlagung der Briefe schändlich betrogen hat. Sie will sich nun von Billow scheiden lassen, um ganz dem Marquis in legi¬ timer Ehe angehören zu dürfen. Allein da treten alle nationalen Gegensätze in geschlossener Phalanx auf, ihr eigner Bruder verachtet sie wegen der Liebe zu dem nationalen Feinde, und ein Duell zwischen beiden verhindert sie nur durch ihre Flucht und völlige Entsagung. Hier hätte die Geschichte schließen sollen; was nun folgt, ist ein sentimental kümmerlicher Schluß. Hericourt, der Minna nachgeeilt ist, kommt bei dem über¬ menschlich edeln Versuche, ihren ihm und ihr verhaßten Gatten aus einem im Angesicht der Küste sträubenden Schiff zu retten, gleichzeitig mit Billow um, und Minna bleibt allein zurück, um in langen Jahren der Einsamkeit auf Billows Schlosse über die Tragödie ihres Lebens nachzudenken. Die Zeit vertreibt sie sich durch Wohlthun in großem Stile. Paul Heyse Hütte (wie z. B. im „Roman der Stiftsdame") vom Abschluß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/235>, abgerufen am 01.09.2024.