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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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sättigten des modischen Geschmacks gewährte, auf welche hin wir ja überhaupt
solche Bücher lesen. Denn mehr als flüchtiges Modewerk ist keines von den
dreien. Dabei trifft es sich ganz gut, daß von den drei Schriftstellern jeder typisch
fiir seine Art ist.

Mit dem ältesten und angesehensten machen wir gebührenderweise den
Anfang, mit Friedrich Spielhagcns neuestem Roman (in drei Büchern):
Nokias"; odliAö (Leipzig. Staackmann). Die Handlung dieses Romans
spielt in Hamburg, und zwar in jenem Hamburg, welches zur Zeit der Napo¬
leonischen Kriege von einem französischen Korps besetzt und mit der rücksichts¬
losesten Härte vom Eroberer behandelt worden war, bis es 1815 mit dem
ganzen übrigen Deutschland das fremde Joch abschüttelte. Wer Spielhagcn
kennt, nud weiß, wie nachdrücklich er den historischen Roman ablehnt und nur
die Gegenwart als den rechten Stoff der Romandichtung gelten läßt, wird
überrascht sein, ihn gleichwohl auf den Bahnen der Geschichte zu treffen. Ja
die Geschichte ist in Nodlvsss oblig" sogar mit viel Sorgfalt und Ausführlichkeit
berücksichtigt. Überschaut man aber die ganze Erzählung von rückwärts, von
ihrem Ausgange bis zum Anfang, dann wird man sich nicht mehr verwundern und
finden, daß sich Spielhagen prinzipiell treu geblieben ist. Er hat eine sehr
zeitgemäße Frage in NMesss cMIg'iz aufgeworfen und in seiner Art und mit
den Mitteln des Erzählers beantwortet. Es ist künstlerisch sogar sehr gut
motivirt, daß Spielhagcn die Darstellung seines Problems in eine historische
Zeit, in eine ideale Ferne zurückgeschoben hat. Die Zeit der Befreiungskriege
ist ganz angemessen gewählt, denn in jenen Jahren haben die erregten Leiden¬
schaften und Gegensätze das Problem noch schärfer zugespitzt, als in der immer¬
hin friedlicheren Gegenwart; jede Verschärfung der Motive ist aber künstlerisch
ein Vorteil.

Das von Spielhagcn ergriffene Problem ist ganz aus der Gegenwart
geschöpft. Die beherrschende Idee unsrer Zeit ist der nationale Gedanke. In
diesem Gedanken geht, kann man sagen, heute all unser Geistesleben auf. Die
Politik ist national, die Wissenschaft ist national, Kunst, Religion sollen ebenso
national sein, wie Industrie und aller Handel und Wandel. Mißtrauisch,
gehässig, erbittert, jeden Augenblick zum Losschlagen bereit, stehen sich die edelsten
Nationen der Welt seit langen Jahren gegenüber. Das kriegerische, das eiserne
Zeitalter hat man mit Recht die Gegenwart genannt. Wo sind die Zeiten hin,
da kosmopolitische Schwärmer wie Schiller. Humanisten wie Wilhelm von Hum¬
boldt und Goethe von einer Verbrüderung der Nationen, von einer Weltlitte¬
ratur träumten? Wohin jener Idealismus der "reinen Menschlichkeit," welcher
alle nationalen Formen enthusiastisch übersah, um einem abstrakten Typus des
menschlichen Geschlechts, der humanen Idee allein zu huldigen? Diese Zeiten
sind dahin, wir sind jetzt Realisten, konkrete Denker! Wir wissen, daß jedes
Volk seine bestimmte Eigenart hat, die durch dessen Geschichte und Natur bestimmt


Grenzboten II. 1888. 29

sättigten des modischen Geschmacks gewährte, auf welche hin wir ja überhaupt
solche Bücher lesen. Denn mehr als flüchtiges Modewerk ist keines von den
dreien. Dabei trifft es sich ganz gut, daß von den drei Schriftstellern jeder typisch
fiir seine Art ist.

Mit dem ältesten und angesehensten machen wir gebührenderweise den
Anfang, mit Friedrich Spielhagcns neuestem Roman (in drei Büchern):
Nokias«; odliAö (Leipzig. Staackmann). Die Handlung dieses Romans
spielt in Hamburg, und zwar in jenem Hamburg, welches zur Zeit der Napo¬
leonischen Kriege von einem französischen Korps besetzt und mit der rücksichts¬
losesten Härte vom Eroberer behandelt worden war, bis es 1815 mit dem
ganzen übrigen Deutschland das fremde Joch abschüttelte. Wer Spielhagcn
kennt, nud weiß, wie nachdrücklich er den historischen Roman ablehnt und nur
die Gegenwart als den rechten Stoff der Romandichtung gelten läßt, wird
überrascht sein, ihn gleichwohl auf den Bahnen der Geschichte zu treffen. Ja
die Geschichte ist in Nodlvsss oblig« sogar mit viel Sorgfalt und Ausführlichkeit
berücksichtigt. Überschaut man aber die ganze Erzählung von rückwärts, von
ihrem Ausgange bis zum Anfang, dann wird man sich nicht mehr verwundern und
finden, daß sich Spielhagen prinzipiell treu geblieben ist. Er hat eine sehr
zeitgemäße Frage in NMesss cMIg'iz aufgeworfen und in seiner Art und mit
den Mitteln des Erzählers beantwortet. Es ist künstlerisch sogar sehr gut
motivirt, daß Spielhagcn die Darstellung seines Problems in eine historische
Zeit, in eine ideale Ferne zurückgeschoben hat. Die Zeit der Befreiungskriege
ist ganz angemessen gewählt, denn in jenen Jahren haben die erregten Leiden¬
schaften und Gegensätze das Problem noch schärfer zugespitzt, als in der immer¬
hin friedlicheren Gegenwart; jede Verschärfung der Motive ist aber künstlerisch
ein Vorteil.

Das von Spielhagcn ergriffene Problem ist ganz aus der Gegenwart
geschöpft. Die beherrschende Idee unsrer Zeit ist der nationale Gedanke. In
diesem Gedanken geht, kann man sagen, heute all unser Geistesleben auf. Die
Politik ist national, die Wissenschaft ist national, Kunst, Religion sollen ebenso
national sein, wie Industrie und aller Handel und Wandel. Mißtrauisch,
gehässig, erbittert, jeden Augenblick zum Losschlagen bereit, stehen sich die edelsten
Nationen der Welt seit langen Jahren gegenüber. Das kriegerische, das eiserne
Zeitalter hat man mit Recht die Gegenwart genannt. Wo sind die Zeiten hin,
da kosmopolitische Schwärmer wie Schiller. Humanisten wie Wilhelm von Hum¬
boldt und Goethe von einer Verbrüderung der Nationen, von einer Weltlitte¬
ratur träumten? Wohin jener Idealismus der „reinen Menschlichkeit," welcher
alle nationalen Formen enthusiastisch übersah, um einem abstrakten Typus des
menschlichen Geschlechts, der humanen Idee allein zu huldigen? Diese Zeiten
sind dahin, wir sind jetzt Realisten, konkrete Denker! Wir wissen, daß jedes
Volk seine bestimmte Eigenart hat, die durch dessen Geschichte und Natur bestimmt


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[0233] sättigten des modischen Geschmacks gewährte, auf welche hin wir ja überhaupt solche Bücher lesen. Denn mehr als flüchtiges Modewerk ist keines von den dreien. Dabei trifft es sich ganz gut, daß von den drei Schriftstellern jeder typisch fiir seine Art ist. Mit dem ältesten und angesehensten machen wir gebührenderweise den Anfang, mit Friedrich Spielhagcns neuestem Roman (in drei Büchern): Nokias«; odliAö (Leipzig. Staackmann). Die Handlung dieses Romans spielt in Hamburg, und zwar in jenem Hamburg, welches zur Zeit der Napo¬ leonischen Kriege von einem französischen Korps besetzt und mit der rücksichts¬ losesten Härte vom Eroberer behandelt worden war, bis es 1815 mit dem ganzen übrigen Deutschland das fremde Joch abschüttelte. Wer Spielhagcn kennt, nud weiß, wie nachdrücklich er den historischen Roman ablehnt und nur die Gegenwart als den rechten Stoff der Romandichtung gelten läßt, wird überrascht sein, ihn gleichwohl auf den Bahnen der Geschichte zu treffen. Ja die Geschichte ist in Nodlvsss oblig« sogar mit viel Sorgfalt und Ausführlichkeit berücksichtigt. Überschaut man aber die ganze Erzählung von rückwärts, von ihrem Ausgange bis zum Anfang, dann wird man sich nicht mehr verwundern und finden, daß sich Spielhagen prinzipiell treu geblieben ist. Er hat eine sehr zeitgemäße Frage in NMesss cMIg'iz aufgeworfen und in seiner Art und mit den Mitteln des Erzählers beantwortet. Es ist künstlerisch sogar sehr gut motivirt, daß Spielhagcn die Darstellung seines Problems in eine historische Zeit, in eine ideale Ferne zurückgeschoben hat. Die Zeit der Befreiungskriege ist ganz angemessen gewählt, denn in jenen Jahren haben die erregten Leiden¬ schaften und Gegensätze das Problem noch schärfer zugespitzt, als in der immer¬ hin friedlicheren Gegenwart; jede Verschärfung der Motive ist aber künstlerisch ein Vorteil. Das von Spielhagcn ergriffene Problem ist ganz aus der Gegenwart geschöpft. Die beherrschende Idee unsrer Zeit ist der nationale Gedanke. In diesem Gedanken geht, kann man sagen, heute all unser Geistesleben auf. Die Politik ist national, die Wissenschaft ist national, Kunst, Religion sollen ebenso national sein, wie Industrie und aller Handel und Wandel. Mißtrauisch, gehässig, erbittert, jeden Augenblick zum Losschlagen bereit, stehen sich die edelsten Nationen der Welt seit langen Jahren gegenüber. Das kriegerische, das eiserne Zeitalter hat man mit Recht die Gegenwart genannt. Wo sind die Zeiten hin, da kosmopolitische Schwärmer wie Schiller. Humanisten wie Wilhelm von Hum¬ boldt und Goethe von einer Verbrüderung der Nationen, von einer Weltlitte¬ ratur träumten? Wohin jener Idealismus der „reinen Menschlichkeit," welcher alle nationalen Formen enthusiastisch übersah, um einem abstrakten Typus des menschlichen Geschlechts, der humanen Idee allein zu huldigen? Diese Zeiten sind dahin, wir sind jetzt Realisten, konkrete Denker! Wir wissen, daß jedes Volk seine bestimmte Eigenart hat, die durch dessen Geschichte und Natur bestimmt Grenzboten II. 1888. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/233>, abgerufen am 01.09.2024.