Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung. ältester Zeit die gesamte Volksgemeinde, später Ausschüsse derselben das Recht Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung. ältester Zeit die gesamte Volksgemeinde, später Ausschüsse derselben das Recht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0173" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202950"/> <fw type="header" place="top"> Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_555" prev="#ID_554" next="#ID_556"> ältester Zeit die gesamte Volksgemeinde, später Ausschüsse derselben das Recht<lb/> fanden. Hand in Hand mit der Öffentlichkeit — ohne jedoch einander innerlich<lb/> zu bedingen — ging die Mündlichkeit; sie ergab sich in den frühesten Zeiten<lb/> von selbst; sie schwand erst im Mittelalter, als der Prozeß der Kirche ein<lb/> schriftlicher wurde und ihr Verfahren auch die weltlichen Gerichte beherrschte.<lb/> Mit dem Schwinden der Mündlichkeit aber hörte das Interesse an der Öffent¬<lb/> lichkeit auf; es gab in den Gerichtsstuben nichts mehr zu hören, und so wurde<lb/> das Gerichtsverfahren von selbst und ohne daß eine gesetzliche Vorschrift erlassen<lb/> wurde, ein heimliches, nur bei Hinrichtungen war der sogenannte „endliche<lb/> Rechtstag" der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. „um des gemeinen Volks<lb/> und alter Gewohnheit willen" eine wenn auch inhaltlich leere, doch öffentliche<lb/> Zeremonie. In England hatte sich in den Jurys die altdeutsche Gewohnheit<lb/> der Öffentlichkeit erhalten, und sie war von dort in die französische Gesetzgebung<lb/> der Revolution übergegangen und hatte mit dieser in den einzelnen unter Napo¬<lb/> leonische Herrschaft geratenen deutschen Landesteilen Geltung erhalten. Daran<lb/> knüpfte die politische Agitation an, als nach den Freiheitskriegen der ersehnte<lb/> Völkerfrühling nicht eintreten wollte und die deutschen Verfassungskämpfe be¬<lb/> gannen. Es ist immer ein Zeichen ungesunder Zustände, wenn die Politik in<lb/> die Gerichtssäle dringt, aber diese treten ein, sobald der Politik nicht der richtige<lb/> Spielraum gewährt wird. Deshalb begann von den dreißiger Jahren an der<lb/> Liberalismus die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen zu fordern, und dies<lb/> war der Grund, weswegen die Gegner der konstitutionellen Rechte die Öffent¬<lb/> lichkeit ablehnten. So war zu Unrecht aus einer ganz äußerlichen Einrichtung<lb/> ein Kampfgegenstand für die politischen Parteien geworden, zu dessen Gunsten<lb/> und gegen welchen eine Reihe unzutreffender Gründe angeführt wurde. Thöricht<lb/> ist es — um nur einige anzuführen —, wenn der Vorzug der Öffentlichkeit in<lb/> der Kontrole des Volkes auf das Richteramt gesehen wurde, weil eine solche<lb/> Kontrole doch nur unzulänglich sein kann und, wo sie nötig ist. die Gerichte<lb/> selbst nichts taugen und kein Vertrauen verdienen. Ebenso thöricht ist es, in<lb/> dem öffentlichen Verfahren ein Schauspiel zu sehen, denn zum Schauspiel wird<lb/> eine gerichtliche Verhandlung nur dann, wenn der Richter — was leider nicht<lb/> gar selten in neuerer Zeit geschieht — nach Effekten hascht und auf den Ein¬<lb/> druck Wert legt, den seine Leitung in der Presse hervorruft. Thöricht ist es,<lb/> wenn man in der Öffentlichkeit eine Schule des Verbrechertums sieht, weil dieses<lb/> aus den Verhandlungen lernen könne, wie es den Maschen des Gesetzes entgeht.<lb/> Denn dieser Grund hat nur die Möglichkeit eines einzelnen Falles im Auge,<lb/> ebenso wie der ähnliche, welcher die Heimlichkeit als Schutz für den Ange¬<lb/> klagten verlangt. Denn für den Unschuldigen kann es keine bessere restiwtio<lb/> lÄmae geben, als daß sich seine Unschuld öffentlich erweist. Das wird man<lb/> aber nicht leugnen können, daß die öffentlichen Verhandlungen beispielgebend<lb/> wirken, daß sie bei dem ganzen Volke das Vertrauen in die Gleichheit vor dem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0173]
Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens in seiner neuesten Gestaltung.
ältester Zeit die gesamte Volksgemeinde, später Ausschüsse derselben das Recht
fanden. Hand in Hand mit der Öffentlichkeit — ohne jedoch einander innerlich
zu bedingen — ging die Mündlichkeit; sie ergab sich in den frühesten Zeiten
von selbst; sie schwand erst im Mittelalter, als der Prozeß der Kirche ein
schriftlicher wurde und ihr Verfahren auch die weltlichen Gerichte beherrschte.
Mit dem Schwinden der Mündlichkeit aber hörte das Interesse an der Öffent¬
lichkeit auf; es gab in den Gerichtsstuben nichts mehr zu hören, und so wurde
das Gerichtsverfahren von selbst und ohne daß eine gesetzliche Vorschrift erlassen
wurde, ein heimliches, nur bei Hinrichtungen war der sogenannte „endliche
Rechtstag" der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. „um des gemeinen Volks
und alter Gewohnheit willen" eine wenn auch inhaltlich leere, doch öffentliche
Zeremonie. In England hatte sich in den Jurys die altdeutsche Gewohnheit
der Öffentlichkeit erhalten, und sie war von dort in die französische Gesetzgebung
der Revolution übergegangen und hatte mit dieser in den einzelnen unter Napo¬
leonische Herrschaft geratenen deutschen Landesteilen Geltung erhalten. Daran
knüpfte die politische Agitation an, als nach den Freiheitskriegen der ersehnte
Völkerfrühling nicht eintreten wollte und die deutschen Verfassungskämpfe be¬
gannen. Es ist immer ein Zeichen ungesunder Zustände, wenn die Politik in
die Gerichtssäle dringt, aber diese treten ein, sobald der Politik nicht der richtige
Spielraum gewährt wird. Deshalb begann von den dreißiger Jahren an der
Liberalismus die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen zu fordern, und dies
war der Grund, weswegen die Gegner der konstitutionellen Rechte die Öffent¬
lichkeit ablehnten. So war zu Unrecht aus einer ganz äußerlichen Einrichtung
ein Kampfgegenstand für die politischen Parteien geworden, zu dessen Gunsten
und gegen welchen eine Reihe unzutreffender Gründe angeführt wurde. Thöricht
ist es — um nur einige anzuführen —, wenn der Vorzug der Öffentlichkeit in
der Kontrole des Volkes auf das Richteramt gesehen wurde, weil eine solche
Kontrole doch nur unzulänglich sein kann und, wo sie nötig ist. die Gerichte
selbst nichts taugen und kein Vertrauen verdienen. Ebenso thöricht ist es, in
dem öffentlichen Verfahren ein Schauspiel zu sehen, denn zum Schauspiel wird
eine gerichtliche Verhandlung nur dann, wenn der Richter — was leider nicht
gar selten in neuerer Zeit geschieht — nach Effekten hascht und auf den Ein¬
druck Wert legt, den seine Leitung in der Presse hervorruft. Thöricht ist es,
wenn man in der Öffentlichkeit eine Schule des Verbrechertums sieht, weil dieses
aus den Verhandlungen lernen könne, wie es den Maschen des Gesetzes entgeht.
Denn dieser Grund hat nur die Möglichkeit eines einzelnen Falles im Auge,
ebenso wie der ähnliche, welcher die Heimlichkeit als Schutz für den Ange¬
klagten verlangt. Denn für den Unschuldigen kann es keine bessere restiwtio
lÄmae geben, als daß sich seine Unschuld öffentlich erweist. Das wird man
aber nicht leugnen können, daß die öffentlichen Verhandlungen beispielgebend
wirken, daß sie bei dem ganzen Volke das Vertrauen in die Gleichheit vor dem
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