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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr.

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Der Totentanz der Minister in j)aris.

Frankreich freilich bisher bedeutete, daß man einige Wochen oder Monate seine
Zeit, seine Galle und seinen Ruf mit Sisyphusarbeit und unablässigem Ärger
verschwendet. Er ist ein Radikaler mit sehr weitgehenden und sehr entschiednen
An- und Absichten und müßte als solcher von Anfang an die gemäßigten Re¬
publikaner, uutersttttzt von den Legitimisten und Bonapartisten, gegen sich haben.
Die Abstimmung, welche Tirard zu Falle brachte, ging von Elementen aus, die
sich niemals zur Unterstützung einer Regierung vereinigen werden, von den
beiden monarchischen Parteien, welche sofort als Todfeinde Flvqncts auftrete"
werden, und von den unversöhnlichen Radikalen und Sozialisten, die mit keinem
achtbaren Ministerium auch nur einen Waffenstillstand schließen werden. Der
Boulaugerismus, das dritte Element, verlangt gründliche Abänderung der Ver¬
fassung, was praktisch nicht nur Abschaffung des Senats, sondern Wieder¬
aufleben des Konvents der ersten Revolution bedeutet. In der That, die
Krisis, welche Tircirds Ministerium umwarf, war das Ergebnis eines Bünd¬
nisses von Fraktionen mit sehr verschiednen Zielen. Die Royalisten und Im¬
perialisten wollen keine" Parlamentarismus, sondern das Regiment eines
Mannes, der eine Krone von unvermischten Golde trägt. Die Radikalen be¬
kämpfen den Senat, weil er zum Teil mittelbar gewählt ist und weil einige
seiner Mitglieder ein Mandat für Lebenszeit inne haben. Die Bvnlangeriste",
die denselben Boden einnehmen, fügen leise hinzu: "Das Land fordert, daß ein
fähiger Soldat an seine Spitze gestellt und dann zur Rache an den Deutschen
geschritten werde." Was alle eint, ist das, was immer der Hauptwuusch der
Franzosen war, Wechsel, Abänderung der gerade geltenden Einrichtungen. Sie
haben jetzt die "Republik der achtbaren Leute" satt, wie sie nach und "ach alle
Regierungsformen satt bekamen, die sie seit 1789 hatten. Diese unruhige Begier
"ach immer neuen Dingen trieb die aus alle" Ecken zusammengescharrte Mehrheit
der Volksvertretung zu der Erklärung, die 1873 angenommene und vor einigen
Jahren schon unigestaltete Verfassung müsse notwendig im Kessel eines kon-
stitnirendcn Kongresses nochmals umgeschmolzen werden. Vergebens fragt man,
weshalb. Diese Verfassung hat, wenn man sie mit früher" französischen Ver¬
fassungen vergleicht, gerade nicht bewundernswerte, doch ziemlich gute Dienste
gethan. Sie hat Fürsten ansgewiese", aber weder geköpft noch ihrer Güter
beraubt. Sie hat die Jesuiten aus dem Lande, die Mönche aus den Schulen,
barmherzige Schwestern aus den Spitälern vertrieben, aber weder Priester
guillotinirt, "och Erzbischöfe erschossen, noch die Messe verboten. Sie hat ihre
unglückliche" kleinen Kriege in Tonking und Madagaskar gehabt, aber nicht zu
Invasionen und Katastrophen geführt. Unter ihr war die Presse freier denn
je vorher, man durfte politische Versammlnnge" abhalte" nach Herzenslust, die
öffentliche Ruhe erlitt keinerlei Störung. Aber keiner ihrer Vorzüge rettete sie
vor ihrem Schicksale: sie hatte endlich zu lange gelebt.

Nach etwa achtzehn Jahren tritt in Frankreich, wie es scheint, ein Um-


Der Totentanz der Minister in j)aris.

Frankreich freilich bisher bedeutete, daß man einige Wochen oder Monate seine
Zeit, seine Galle und seinen Ruf mit Sisyphusarbeit und unablässigem Ärger
verschwendet. Er ist ein Radikaler mit sehr weitgehenden und sehr entschiednen
An- und Absichten und müßte als solcher von Anfang an die gemäßigten Re¬
publikaner, uutersttttzt von den Legitimisten und Bonapartisten, gegen sich haben.
Die Abstimmung, welche Tirard zu Falle brachte, ging von Elementen aus, die
sich niemals zur Unterstützung einer Regierung vereinigen werden, von den
beiden monarchischen Parteien, welche sofort als Todfeinde Flvqncts auftrete»
werden, und von den unversöhnlichen Radikalen und Sozialisten, die mit keinem
achtbaren Ministerium auch nur einen Waffenstillstand schließen werden. Der
Boulaugerismus, das dritte Element, verlangt gründliche Abänderung der Ver¬
fassung, was praktisch nicht nur Abschaffung des Senats, sondern Wieder¬
aufleben des Konvents der ersten Revolution bedeutet. In der That, die
Krisis, welche Tircirds Ministerium umwarf, war das Ergebnis eines Bünd¬
nisses von Fraktionen mit sehr verschiednen Zielen. Die Royalisten und Im¬
perialisten wollen keine» Parlamentarismus, sondern das Regiment eines
Mannes, der eine Krone von unvermischten Golde trägt. Die Radikalen be¬
kämpfen den Senat, weil er zum Teil mittelbar gewählt ist und weil einige
seiner Mitglieder ein Mandat für Lebenszeit inne haben. Die Bvnlangeriste»,
die denselben Boden einnehmen, fügen leise hinzu: „Das Land fordert, daß ein
fähiger Soldat an seine Spitze gestellt und dann zur Rache an den Deutschen
geschritten werde." Was alle eint, ist das, was immer der Hauptwuusch der
Franzosen war, Wechsel, Abänderung der gerade geltenden Einrichtungen. Sie
haben jetzt die „Republik der achtbaren Leute" satt, wie sie nach und »ach alle
Regierungsformen satt bekamen, die sie seit 1789 hatten. Diese unruhige Begier
»ach immer neuen Dingen trieb die aus alle» Ecken zusammengescharrte Mehrheit
der Volksvertretung zu der Erklärung, die 1873 angenommene und vor einigen
Jahren schon unigestaltete Verfassung müsse notwendig im Kessel eines kon-
stitnirendcn Kongresses nochmals umgeschmolzen werden. Vergebens fragt man,
weshalb. Diese Verfassung hat, wenn man sie mit früher» französischen Ver¬
fassungen vergleicht, gerade nicht bewundernswerte, doch ziemlich gute Dienste
gethan. Sie hat Fürsten ansgewiese», aber weder geköpft noch ihrer Güter
beraubt. Sie hat die Jesuiten aus dem Lande, die Mönche aus den Schulen,
barmherzige Schwestern aus den Spitälern vertrieben, aber weder Priester
guillotinirt, »och Erzbischöfe erschossen, noch die Messe verboten. Sie hat ihre
unglückliche» kleinen Kriege in Tonking und Madagaskar gehabt, aber nicht zu
Invasionen und Katastrophen geführt. Unter ihr war die Presse freier denn
je vorher, man durfte politische Versammlnnge» abhalte» nach Herzenslust, die
öffentliche Ruhe erlitt keinerlei Störung. Aber keiner ihrer Vorzüge rettete sie
vor ihrem Schicksale: sie hatte endlich zu lange gelebt.

Nach etwa achtzehn Jahren tritt in Frankreich, wie es scheint, ein Um-


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[0146] Der Totentanz der Minister in j)aris. Frankreich freilich bisher bedeutete, daß man einige Wochen oder Monate seine Zeit, seine Galle und seinen Ruf mit Sisyphusarbeit und unablässigem Ärger verschwendet. Er ist ein Radikaler mit sehr weitgehenden und sehr entschiednen An- und Absichten und müßte als solcher von Anfang an die gemäßigten Re¬ publikaner, uutersttttzt von den Legitimisten und Bonapartisten, gegen sich haben. Die Abstimmung, welche Tirard zu Falle brachte, ging von Elementen aus, die sich niemals zur Unterstützung einer Regierung vereinigen werden, von den beiden monarchischen Parteien, welche sofort als Todfeinde Flvqncts auftrete» werden, und von den unversöhnlichen Radikalen und Sozialisten, die mit keinem achtbaren Ministerium auch nur einen Waffenstillstand schließen werden. Der Boulaugerismus, das dritte Element, verlangt gründliche Abänderung der Ver¬ fassung, was praktisch nicht nur Abschaffung des Senats, sondern Wieder¬ aufleben des Konvents der ersten Revolution bedeutet. In der That, die Krisis, welche Tircirds Ministerium umwarf, war das Ergebnis eines Bünd¬ nisses von Fraktionen mit sehr verschiednen Zielen. Die Royalisten und Im¬ perialisten wollen keine» Parlamentarismus, sondern das Regiment eines Mannes, der eine Krone von unvermischten Golde trägt. Die Radikalen be¬ kämpfen den Senat, weil er zum Teil mittelbar gewählt ist und weil einige seiner Mitglieder ein Mandat für Lebenszeit inne haben. Die Bvnlangeriste», die denselben Boden einnehmen, fügen leise hinzu: „Das Land fordert, daß ein fähiger Soldat an seine Spitze gestellt und dann zur Rache an den Deutschen geschritten werde." Was alle eint, ist das, was immer der Hauptwuusch der Franzosen war, Wechsel, Abänderung der gerade geltenden Einrichtungen. Sie haben jetzt die „Republik der achtbaren Leute" satt, wie sie nach und »ach alle Regierungsformen satt bekamen, die sie seit 1789 hatten. Diese unruhige Begier »ach immer neuen Dingen trieb die aus alle» Ecken zusammengescharrte Mehrheit der Volksvertretung zu der Erklärung, die 1873 angenommene und vor einigen Jahren schon unigestaltete Verfassung müsse notwendig im Kessel eines kon- stitnirendcn Kongresses nochmals umgeschmolzen werden. Vergebens fragt man, weshalb. Diese Verfassung hat, wenn man sie mit früher» französischen Ver¬ fassungen vergleicht, gerade nicht bewundernswerte, doch ziemlich gute Dienste gethan. Sie hat Fürsten ansgewiese», aber weder geköpft noch ihrer Güter beraubt. Sie hat die Jesuiten aus dem Lande, die Mönche aus den Schulen, barmherzige Schwestern aus den Spitälern vertrieben, aber weder Priester guillotinirt, »och Erzbischöfe erschossen, noch die Messe verboten. Sie hat ihre unglückliche» kleinen Kriege in Tonking und Madagaskar gehabt, aber nicht zu Invasionen und Katastrophen geführt. Unter ihr war die Presse freier denn je vorher, man durfte politische Versammlnnge» abhalte» nach Herzenslust, die öffentliche Ruhe erlitt keinerlei Störung. Aber keiner ihrer Vorzüge rettete sie vor ihrem Schicksale: sie hatte endlich zu lange gelebt. Nach etwa achtzehn Jahren tritt in Frankreich, wie es scheint, ein Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202776/146>, abgerufen am 27.07.2024.