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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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emsiges Suchen und glückliches Finden auf allen Gebieten praktischer Thätig¬
keit der Anschauungskreis erweitert, die Einsicht geklärt, das Urteil geschärft
wird. Das gilt aber nicht nur von der reinen Praxis, die in einem andern
Sinne als die theoretischen Wissenschaften ihre Dienste dem Wohle der Mensch¬
heit widmet. Entsprechend dem allgemeinen Charakter unsrer Zeit darf man
much bei der klassischen Kunstwissenschaft von einer Periode der Funde und Ent¬
deckungen sprechen, von einer Periode, die infolge besonders glücklicher Umstände,
deren sich das deutsche Volk zu erfreuen gehabt hat, und infolge des regen
Wettstreites der verschiednen Völker untereinander der Wissenschaft neue, un¬
geahnte Elemente in einer Fülle zugeführt hat, deren Bedeutung noch gar nicht
übersehen werden kann.

Es ist bekannt, von welchem verhältnismäßig beschränkten Denkmälerkreise
Winckelmann ausging, wie verhältnismäßig gering die Mittel waren, mit denen
er in großen Umrissen die Grundzüge einer Geschichte der Kunst des Altertums
vorzeichnete. Ihm war es nicht vergönnt gewesen, die Meisterwerke des grie¬
chischen Genius, ihre reine und vollkommene Schönheit selbst zu sehen; nur mit
dem allein ihm eignen Seherblick, mit einer Phantasie, die den spätern Ge¬
schlechtern als eine Offenbarung erschien, vermochte er zu der Erhabenheit der
griechischen Kunst durchzudringen und von ihrer Schönheit mit überzeugender
Gewalt zu erzählen. Er ahnte mehr, als er wußte. Das Feld seiner Arbeit
war auf Rom beschränkt, und wenn die römischen, die italienischen Museen auch
reich an bedeutenden Kunstwerken waren, so fehlte doch das, was eine An¬
schauung von den originellen künstlerischen Schöpfungen eines Phidias und seiner
Zeitgenossen hätte vermitteln können.

Aber was äußere Beschränkungen dem großen Manne versagt haben, das
haben in seinem Sinne und unter dem Einflüsse der fruchtbaren Ideen, die von
ihm ausgingen, spätere Geschlechter in reichem Maße nachgeholt. Seit Winckel-
manns Zeit ist eine große Reihe der hervorragendsten Funde und Entdeckungen
auf dem Boden Italiens und Griechenlands, der griechischen Inselwelt und
des kleinasiatischen Festlandes gemacht worden. Zu Anfang des Jahrhunderts
wurden die Bildwerke des Parthenon dem drohenden Untergange entrissen und
durch ihre Überführung in das britische Museum der wissenschaftlichen Er¬
forschung erschlossen. Es folgte neben der Entdeckung -- die ja oft genug
gleichbedeutend mit eiuer Aufstellung in den Sammlungen der nordischen Länder
war -- eine Menge nicht minder wichtiger Skulpturen aus der Zeit der höchsten
Blüte der griechischen Kunst, die Erwerbung der äginetischen Bildwerke durch
König Ludwig von Baiern, der charakteristischsten Denkmäler der archaischen Kunst
der Griechen. Überhaupt wurde seit dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts
mehr und mehr die hellenische Welt der Zielpunkt des von einer edeln Be¬
geisterung erfüllten Forschnngseifers, der früher als ein Erbe der humanistischen
Studien der Renaissance ans Italien beschränkt war.


emsiges Suchen und glückliches Finden auf allen Gebieten praktischer Thätig¬
keit der Anschauungskreis erweitert, die Einsicht geklärt, das Urteil geschärft
wird. Das gilt aber nicht nur von der reinen Praxis, die in einem andern
Sinne als die theoretischen Wissenschaften ihre Dienste dem Wohle der Mensch¬
heit widmet. Entsprechend dem allgemeinen Charakter unsrer Zeit darf man
much bei der klassischen Kunstwissenschaft von einer Periode der Funde und Ent¬
deckungen sprechen, von einer Periode, die infolge besonders glücklicher Umstände,
deren sich das deutsche Volk zu erfreuen gehabt hat, und infolge des regen
Wettstreites der verschiednen Völker untereinander der Wissenschaft neue, un¬
geahnte Elemente in einer Fülle zugeführt hat, deren Bedeutung noch gar nicht
übersehen werden kann.

Es ist bekannt, von welchem verhältnismäßig beschränkten Denkmälerkreise
Winckelmann ausging, wie verhältnismäßig gering die Mittel waren, mit denen
er in großen Umrissen die Grundzüge einer Geschichte der Kunst des Altertums
vorzeichnete. Ihm war es nicht vergönnt gewesen, die Meisterwerke des grie¬
chischen Genius, ihre reine und vollkommene Schönheit selbst zu sehen; nur mit
dem allein ihm eignen Seherblick, mit einer Phantasie, die den spätern Ge¬
schlechtern als eine Offenbarung erschien, vermochte er zu der Erhabenheit der
griechischen Kunst durchzudringen und von ihrer Schönheit mit überzeugender
Gewalt zu erzählen. Er ahnte mehr, als er wußte. Das Feld seiner Arbeit
war auf Rom beschränkt, und wenn die römischen, die italienischen Museen auch
reich an bedeutenden Kunstwerken waren, so fehlte doch das, was eine An¬
schauung von den originellen künstlerischen Schöpfungen eines Phidias und seiner
Zeitgenossen hätte vermitteln können.

Aber was äußere Beschränkungen dem großen Manne versagt haben, das
haben in seinem Sinne und unter dem Einflüsse der fruchtbaren Ideen, die von
ihm ausgingen, spätere Geschlechter in reichem Maße nachgeholt. Seit Winckel-
manns Zeit ist eine große Reihe der hervorragendsten Funde und Entdeckungen
auf dem Boden Italiens und Griechenlands, der griechischen Inselwelt und
des kleinasiatischen Festlandes gemacht worden. Zu Anfang des Jahrhunderts
wurden die Bildwerke des Parthenon dem drohenden Untergange entrissen und
durch ihre Überführung in das britische Museum der wissenschaftlichen Er¬
forschung erschlossen. Es folgte neben der Entdeckung — die ja oft genug
gleichbedeutend mit eiuer Aufstellung in den Sammlungen der nordischen Länder
war — eine Menge nicht minder wichtiger Skulpturen aus der Zeit der höchsten
Blüte der griechischen Kunst, die Erwerbung der äginetischen Bildwerke durch
König Ludwig von Baiern, der charakteristischsten Denkmäler der archaischen Kunst
der Griechen. Überhaupt wurde seit dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts
mehr und mehr die hellenische Welt der Zielpunkt des von einer edeln Be¬
geisterung erfüllten Forschnngseifers, der früher als ein Erbe der humanistischen
Studien der Renaissance ans Italien beschränkt war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/653>, abgerufen am 21.10.2024.