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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

wahrlich, niemand kann uns selbst in unsrer Zeit deutlicher lehren, wohin er
führt, als Baumgart mit seinen Gefühlen, die keine sind, seinen Energien,
die sich aufheben, mit seinen verborgenen Qualitäten, seinen stehende" Symbolen
und Allegorien und endlich -- um dem alle" die Krone aufzusetzen -- seinem
Aristoteles. Diesen Aristoteles -- hat ihn die Menschheit nicht schon einmal
gesehen? Wohl! Aber er wandelte nicht in den Hainen der Akademie, niemals
sah er Stagira und Athen. Er ist arabischer Abstammung, er disputirte Jahr¬
hunderte lang im großen Saale der Sorbonne in Paris und erklärte im Kleriker-
talar auf deutschen und italienischen Universitäten die spiritualistische Religion
des Mittelalters, den Katholizismus. Dieser Aristoteles führt heute wie jemals
zu der schließlich einzig möglichen Wissenschaft des Spiritualismus -- zur
Scholastik.

Als man dem berühmte" Philologen Jsaak Casaubonus -- Leibniz hat die
Anekdote für wert gehalten, sie in seine Theodicee aufzunehmen -- jenen Saal
der Sorbonne zeigte und dabei stolz hervorhob, daß man an dieser Stätte mehrere
Jahrhunderte hindurch disputirt habe, fragte er: "Und was hat man bewiesen?"
Warum hat Baumgart, Philolog und Philosoph, diese gerade in seinem Sinne
tief symbolische Frage des Philologen an die Philosophen, die für den menschlichen
Geist damals von so heilsam befreiender Wirkung war, warum er hat sie sich wäh¬
rend der Niederschrift seines an zeitgemäßen Tendenzen, liebevollen Charakteristiken,
feinsinnigen Analysen so reichen Werkes nicht mitunter vorgelegt? Sicher wären
so manche Abteilungen daraus weggeblieben, die jetzt dem Leser, zufällig auf¬
geschlagen, das Buch zum wahrhaften Schreckbild machen können. Es ist nicht
allein jene Katharsispvlemik, welche sich, wirtlich ein unheimliches Leitmotiv, in
immer neuen, mitunter ganz und gar nicht zu vereinbarenden Gestaltungen
(man vergl. S. 275 mit S. 450 f.) durch das Buch zieht. Es ist auch die
Allegoriensucht, Nätseljägcrei und symbolische Juterpretationssucht dieses Poe¬
tikers, zu der sein Goethe in demselben Verhältnis steht, wie sei" Aristoteles
zu der Katharsiserklärung und allem, was daran hängt. Ist ihm dieser die un¬
fehlbare Autorität für unergründlich tiefe Weisheit, so ist ihm jener der stets
bedeutsame Offenbarer geheimnisvoller Symbolik. Es ist doch merkwürdig, daß
die wissenschaftliche Kanonisirung nieist Geister trifft, deren Eigentümlichkeit
solchem Verfahren gerade am meisten widerspricht. Den weit umfassenden,
sicher", klaren Philosophen des Thatsächlichen hat man Jahrhunderte lang zum
pythischen Orakel gemacht, und mit seinem Dichter macht man heutzutage bereits
ähnliche Anstalten. Zwar der Aristoteles kann uns kaum wieder derart ge¬
schädigt werden (wenn er uns nur mitunter nutzbarer gemacht würde!), aber
wir fürchten für unsern Goethe. Unter deu vielen Schädigungen, die mau
solchen seltenen Leuchten der Menschheit (für deren Hütung sie wahrlich alle
Ursache hat besorgt zu sein) nur immer beibringen kann, ist keine gefährlicher
als gerade diejenige, die leider meist ans der besten Absicht entspringt, nämlich


Poetische Theorien und Theorie der Poesie.

wahrlich, niemand kann uns selbst in unsrer Zeit deutlicher lehren, wohin er
führt, als Baumgart mit seinen Gefühlen, die keine sind, seinen Energien,
die sich aufheben, mit seinen verborgenen Qualitäten, seinen stehende» Symbolen
und Allegorien und endlich — um dem alle» die Krone aufzusetzen — seinem
Aristoteles. Diesen Aristoteles — hat ihn die Menschheit nicht schon einmal
gesehen? Wohl! Aber er wandelte nicht in den Hainen der Akademie, niemals
sah er Stagira und Athen. Er ist arabischer Abstammung, er disputirte Jahr¬
hunderte lang im großen Saale der Sorbonne in Paris und erklärte im Kleriker-
talar auf deutschen und italienischen Universitäten die spiritualistische Religion
des Mittelalters, den Katholizismus. Dieser Aristoteles führt heute wie jemals
zu der schließlich einzig möglichen Wissenschaft des Spiritualismus — zur
Scholastik.

Als man dem berühmte» Philologen Jsaak Casaubonus — Leibniz hat die
Anekdote für wert gehalten, sie in seine Theodicee aufzunehmen — jenen Saal
der Sorbonne zeigte und dabei stolz hervorhob, daß man an dieser Stätte mehrere
Jahrhunderte hindurch disputirt habe, fragte er: „Und was hat man bewiesen?"
Warum hat Baumgart, Philolog und Philosoph, diese gerade in seinem Sinne
tief symbolische Frage des Philologen an die Philosophen, die für den menschlichen
Geist damals von so heilsam befreiender Wirkung war, warum er hat sie sich wäh¬
rend der Niederschrift seines an zeitgemäßen Tendenzen, liebevollen Charakteristiken,
feinsinnigen Analysen so reichen Werkes nicht mitunter vorgelegt? Sicher wären
so manche Abteilungen daraus weggeblieben, die jetzt dem Leser, zufällig auf¬
geschlagen, das Buch zum wahrhaften Schreckbild machen können. Es ist nicht
allein jene Katharsispvlemik, welche sich, wirtlich ein unheimliches Leitmotiv, in
immer neuen, mitunter ganz und gar nicht zu vereinbarenden Gestaltungen
(man vergl. S. 275 mit S. 450 f.) durch das Buch zieht. Es ist auch die
Allegoriensucht, Nätseljägcrei und symbolische Juterpretationssucht dieses Poe¬
tikers, zu der sein Goethe in demselben Verhältnis steht, wie sei» Aristoteles
zu der Katharsiserklärung und allem, was daran hängt. Ist ihm dieser die un¬
fehlbare Autorität für unergründlich tiefe Weisheit, so ist ihm jener der stets
bedeutsame Offenbarer geheimnisvoller Symbolik. Es ist doch merkwürdig, daß
die wissenschaftliche Kanonisirung nieist Geister trifft, deren Eigentümlichkeit
solchem Verfahren gerade am meisten widerspricht. Den weit umfassenden,
sicher», klaren Philosophen des Thatsächlichen hat man Jahrhunderte lang zum
pythischen Orakel gemacht, und mit seinem Dichter macht man heutzutage bereits
ähnliche Anstalten. Zwar der Aristoteles kann uns kaum wieder derart ge¬
schädigt werden (wenn er uns nur mitunter nutzbarer gemacht würde!), aber
wir fürchten für unsern Goethe. Unter deu vielen Schädigungen, die mau
solchen seltenen Leuchten der Menschheit (für deren Hütung sie wahrlich alle
Ursache hat besorgt zu sein) nur immer beibringen kann, ist keine gefährlicher
als gerade diejenige, die leider meist ans der besten Absicht entspringt, nämlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/650>, abgerufen am 28.09.2024.