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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Ideen von ^739,

pfinden, daß Frankreich zu den Verlusten, die es sich durch Übermut und
Selbstüberhebung zugezogen hat, nicht den weitern und größern hinzufügt, daß
es etwa nun in kleinmütiger Verzagtheit dem Wettbewerb entsagte ans allen
Gebieten, ans welchen die moderne Zivilisation ihre edelsten Kräfte entfaltet.
Dabei wollen wir uns aber in vollem Umfange das Recht wahren, jeden Ge¬
danken, wodurch die Franzosen die Zivilisation zu bereichern oder bereichert zu
haben glauben, erst auf seine Probehaltigkeit zu prüfen und überall, wo ein
solcher Gedanke ins nationale Leben eingreifen sollte, den Maßstab der Beur¬
teilung dem Bewußtsein des deutschen Geistes zu entnehmen. Mit besondern:
Stolze weisen unsre westlichen Nachbarn, vornehmlich aber jetzt bei herannahender
Jubelfeier ihrer großen Staatsumwälzung, auf die "Ideen von 1789" hin als
auf ein Erzeugnis des französischen Geistes, das geeignet sei, auf der Liste der
Ruhmestitel der Nation obenan zu stehen, und von dem sich behaupten lasse,
daß es auch heute noch eine ideelle Herrschaft Frankreichs über das Jahrhundert
begründe.

Sind die sogenannten Ideen von 1789 in der That ausschließlich französisches
Eigentum? Ist das Gedankensystem, wie es sich beim Beginn der französischen
Staatsumwälzung ausgeprägt hat, noch heute im Bewußtsein der Kulturvölker
lebendig, durchdringt und beherrscht es uoch heute deren Anschauungsweise?
Auf beide Fragen wird mit einem entschiednen Nein zu antworten sein. Die
Begründung dieses Nein wird aber zu gleicher Zeit in großen Zügen die Wand¬
lungen hervortreten lassen, welche der öffentliche Geist in Europa, und in Deutsch¬
land insbesondre, seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durchlaufen hat.

Die französische Revolution von 1789 ist zunächst der gewaltsame Versuch
des dritten Standes oder des Bürgertums, die sozialen und politischen Rechte,
auf welche er Auspruch zu haben glaubte, zu erringen und durch Einrichtungen
zu sichern. Der feste Boden, auf welchem ein Gebäude öffentlicher Einrichtungen
allein gegründet werden kann, ist der Geist der Nation. Es galt also, diesen
Baugrund so zu bearbeite", daß alles darauf zu errichtende als richtig, d. h.
im Rechte begründet erschiene. Es galt, die Ncchtsbegiffe der Franzosen so zu
formen, daß von der großen Mehrheit derselben die Herrschaft des Bürger¬
standes als der dem ideellen Recht entsprechende Zustand, als die revolutionäre
Gesetzlichkeit angenommen und anerkannt wurde. Diese Arbeit der Umwandlung
und Umformung der Rechtsbegriffe bis auf den Punkt, wo sie die Revolution
des dritten Standes legitimirten, war eine lange, durch mehr als anderthalb
Jahrhunderte fortgesetzte; das Jahr 1789 brachte ihre Vollendung. Ihre schärfste
und eindringlichste Fassung erhielten die neuen Rechtsideen in der Schrift des
Abbe Sieyes: Was ist der dritte Stand? Sie ist das Programm der Revo¬
lution. Sie umfaßt die Ideen von 1789 insgesamt mit der Begründung, welche
dem französischen Geiste der Epoche am meisten einleuchtete und in der Stufen¬
folge, welche der revolutionären Stimmung der Volksmasse entsprach.


Die Ideen von ^739,

pfinden, daß Frankreich zu den Verlusten, die es sich durch Übermut und
Selbstüberhebung zugezogen hat, nicht den weitern und größern hinzufügt, daß
es etwa nun in kleinmütiger Verzagtheit dem Wettbewerb entsagte ans allen
Gebieten, ans welchen die moderne Zivilisation ihre edelsten Kräfte entfaltet.
Dabei wollen wir uns aber in vollem Umfange das Recht wahren, jeden Ge¬
danken, wodurch die Franzosen die Zivilisation zu bereichern oder bereichert zu
haben glauben, erst auf seine Probehaltigkeit zu prüfen und überall, wo ein
solcher Gedanke ins nationale Leben eingreifen sollte, den Maßstab der Beur¬
teilung dem Bewußtsein des deutschen Geistes zu entnehmen. Mit besondern:
Stolze weisen unsre westlichen Nachbarn, vornehmlich aber jetzt bei herannahender
Jubelfeier ihrer großen Staatsumwälzung, auf die „Ideen von 1789" hin als
auf ein Erzeugnis des französischen Geistes, das geeignet sei, auf der Liste der
Ruhmestitel der Nation obenan zu stehen, und von dem sich behaupten lasse,
daß es auch heute noch eine ideelle Herrschaft Frankreichs über das Jahrhundert
begründe.

Sind die sogenannten Ideen von 1789 in der That ausschließlich französisches
Eigentum? Ist das Gedankensystem, wie es sich beim Beginn der französischen
Staatsumwälzung ausgeprägt hat, noch heute im Bewußtsein der Kulturvölker
lebendig, durchdringt und beherrscht es uoch heute deren Anschauungsweise?
Auf beide Fragen wird mit einem entschiednen Nein zu antworten sein. Die
Begründung dieses Nein wird aber zu gleicher Zeit in großen Zügen die Wand¬
lungen hervortreten lassen, welche der öffentliche Geist in Europa, und in Deutsch¬
land insbesondre, seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts durchlaufen hat.

Die französische Revolution von 1789 ist zunächst der gewaltsame Versuch
des dritten Standes oder des Bürgertums, die sozialen und politischen Rechte,
auf welche er Auspruch zu haben glaubte, zu erringen und durch Einrichtungen
zu sichern. Der feste Boden, auf welchem ein Gebäude öffentlicher Einrichtungen
allein gegründet werden kann, ist der Geist der Nation. Es galt also, diesen
Baugrund so zu bearbeite«, daß alles darauf zu errichtende als richtig, d. h.
im Rechte begründet erschiene. Es galt, die Ncchtsbegiffe der Franzosen so zu
formen, daß von der großen Mehrheit derselben die Herrschaft des Bürger¬
standes als der dem ideellen Recht entsprechende Zustand, als die revolutionäre
Gesetzlichkeit angenommen und anerkannt wurde. Diese Arbeit der Umwandlung
und Umformung der Rechtsbegriffe bis auf den Punkt, wo sie die Revolution
des dritten Standes legitimirten, war eine lange, durch mehr als anderthalb
Jahrhunderte fortgesetzte; das Jahr 1789 brachte ihre Vollendung. Ihre schärfste
und eindringlichste Fassung erhielten die neuen Rechtsideen in der Schrift des
Abbe Sieyes: Was ist der dritte Stand? Sie ist das Programm der Revo¬
lution. Sie umfaßt die Ideen von 1789 insgesamt mit der Begründung, welche
dem französischen Geiste der Epoche am meisten einleuchtete und in der Stufen¬
folge, welche der revolutionären Stimmung der Volksmasse entsprach.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/631>, abgerufen am 28.09.2024.