Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.Litteratur. ihm selbst wird der Zugang ins Schloß aufs strengste versperrt. Dem rohen Man sieht in diesem zwischen Dorf, Schloß und Stadt gespannten Rahmen Aus schwerer Vergangenheit. Ein Gcschichtencuklus von Wilhelm Imsen. Leipzig, B. Elischer. Wilhelm Imsen, von Haus aus eine phantasievolle, tiefpoetische Natur, neigt Litteratur. ihm selbst wird der Zugang ins Schloß aufs strengste versperrt. Dem rohen Man sieht in diesem zwischen Dorf, Schloß und Stadt gespannten Rahmen Aus schwerer Vergangenheit. Ein Gcschichtencuklus von Wilhelm Imsen. Leipzig, B. Elischer. Wilhelm Imsen, von Haus aus eine phantasievolle, tiefpoetische Natur, neigt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0622" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202721"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2223" prev="#ID_2222"> ihm selbst wird der Zugang ins Schloß aufs strengste versperrt. Dem rohen<lb/> Dorfschweinehirten und seiner zweideutigen Gattin wird Pavel in Kost und Quartier<lb/> gegeben. Zwar soll er die Schule besuchen, aber der Pflegevater braucht seine<lb/> Dienste und den Taglohn, den er sich in der Ziegelei verdient. Die Dorfjugend<lb/> verachtet und verspottet ihn, sie schätzt ihn nur als kühnen und verschwiegenen<lb/> Anführer bei allen losen Streichen. Aber das Gemeindekind wird bei diesem ge¬<lb/> hetzten Dasein sehr früh reif — und damit hat eigentlich die typische Geschichte<lb/> des Kindes ihr Ende, und sie erweitert sich zur merkwürdigen Bildungsgeschichte<lb/> eines ganz individualisirten Mannes. Pavel lernt früh die Dummheit der Bauern<lb/> kennen; er kommt durch sie in den Ruf eines zu allen bösen Steeichen, ja zu jedem<lb/> Verbrechen (ist er doch der Sohn eines Mörders!) fähigen Burschen. Aus<lb/> Menschenhaß und Verachtung nimmt er alle Sünden, die man ihm andichtet, in<lb/> trotzigem Schweigen auf sich und verteidigt sich niemals. Der Schulmeister allem<lb/> im ganzen Dorfe gewinnt Einsicht in dieses seltsam verworrene Gemüt, denn er<lb/> ist in einer ähnlichen Lage. Er hat den lächerlichen Ruf eines Hexenmeisters, in<lb/> den ihn die abergläubische Dummheit des Dorfes brachte, aus gleicher Menschen-<lb/> verachtung selbst genährt und gefördert, bis er die schmerzliche Erfahrung machte,<lb/> daß er sich also den Boden, auf dem er stand, selber untergraben hatte. Auch<lb/> Pavel gerät durch sein trotziges Schweigen auf unwahre Beschuldigungen ins Un¬<lb/> glück, bis die Gerichtsverhandlung seine volle Unschuld an den Tag bringt. Damit<lb/> wird seine innere Wandlung eingeleitet. Junige Freundschaft verbindet ihn mit<lb/> dem originellen Schulmeister (der köstlichsten Figur des Buches!), der aus Furcht<lb/> vor dem gestrengen Pfarrer in aller Heimlichkeit Lucrez und andre freigeistige<lb/> Heiden liest. Durch diesen Umgang wird Pavel noch einigermaßen gebildet, er<lb/> bemüht sich nun auch, seinen Übeln Ruf in der Dorfschaft zu tilgen. Dies ge¬<lb/> lingt ihm und ebenso auch, sich nach unsagbaren Mühen zu einem kleinen Besitz¬<lb/> tum zu verhelfen, in welchem er seine Mutter aufzunehmen gedenkt, wenn sie endlich<lb/> wieder in die Freiheit käme. Zur Schwester Milada zog ihn leidenschaftliche<lb/> Sehnsucht: das Kloster stellte sich zwischen beide. Die asketische Erziehung zur<lb/> Nonne hat dem Mädchen aber einen frühen Tod gebracht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2224"> Man sieht in diesem zwischen Dorf, Schloß und Stadt gespannten Rahmen<lb/> einen Reichtum von meisterlich gezeichneten Figuren. Die Zeichnung der stillen,<lb/> schleichenden, mit süßlicher Frömmigkeit verbrämten Gewalt der Nonnen ist eine<lb/> bewunderungswürdig feine Satire. Die gute Schloßfrau wächst einem beim Lesen<lb/> ans Herz. Die kokette Hirtentochtcr Viuska, welche den verliebten Pavel so lange<lb/> am Schnürchen hält, bis sie die Gattin des reichen Peter wird, ist eine Schwester<lb/> der mächtigeren Sternsteinhofbäuerin Anzcngrubers — kurz, alles ist trefflich ge¬<lb/> lungen, und zu bedauern ist nur — der Mangel eines dritten Bandes, denn unser<lb/> Interesse an Pavel ist mit der Ankunft der Mutter noch nicht erloschen.</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> Aus schwerer Vergangenheit. Ein Gcschichtencuklus von Wilhelm Imsen. Leipzig,<lb/> B. Elischer.</head><lb/> <p xml:id="ID_2225" next="#ID_2226"> Wilhelm Imsen, von Haus aus eine phantasievolle, tiefpoetische Natur, neigt<lb/> doch gelegentlich zu einer melodramatischen Steigerung oder vielmehr Häufung der<lb/> Effekte und noch öfter zu einem Manierismus der Motive und des Vortrags, welche<lb/> auch durch seine glänzende Schilderungsgabe, sein leidenschaftliches Mitgefühl für<lb/> menschliches Elend, durch einen Blick, der oft in die verborgenste Tiefe der Seelen hinab¬<lb/> reicht, nicht aufgewogen werden. So hinterlassen die erzählenden Schriften Jensens<lb/> merkwürdig ungleiche Eindrücke und unterliegen sehr verschiedner Beurteilung, je</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0622]
Litteratur.
ihm selbst wird der Zugang ins Schloß aufs strengste versperrt. Dem rohen
Dorfschweinehirten und seiner zweideutigen Gattin wird Pavel in Kost und Quartier
gegeben. Zwar soll er die Schule besuchen, aber der Pflegevater braucht seine
Dienste und den Taglohn, den er sich in der Ziegelei verdient. Die Dorfjugend
verachtet und verspottet ihn, sie schätzt ihn nur als kühnen und verschwiegenen
Anführer bei allen losen Streichen. Aber das Gemeindekind wird bei diesem ge¬
hetzten Dasein sehr früh reif — und damit hat eigentlich die typische Geschichte
des Kindes ihr Ende, und sie erweitert sich zur merkwürdigen Bildungsgeschichte
eines ganz individualisirten Mannes. Pavel lernt früh die Dummheit der Bauern
kennen; er kommt durch sie in den Ruf eines zu allen bösen Steeichen, ja zu jedem
Verbrechen (ist er doch der Sohn eines Mörders!) fähigen Burschen. Aus
Menschenhaß und Verachtung nimmt er alle Sünden, die man ihm andichtet, in
trotzigem Schweigen auf sich und verteidigt sich niemals. Der Schulmeister allem
im ganzen Dorfe gewinnt Einsicht in dieses seltsam verworrene Gemüt, denn er
ist in einer ähnlichen Lage. Er hat den lächerlichen Ruf eines Hexenmeisters, in
den ihn die abergläubische Dummheit des Dorfes brachte, aus gleicher Menschen-
verachtung selbst genährt und gefördert, bis er die schmerzliche Erfahrung machte,
daß er sich also den Boden, auf dem er stand, selber untergraben hatte. Auch
Pavel gerät durch sein trotziges Schweigen auf unwahre Beschuldigungen ins Un¬
glück, bis die Gerichtsverhandlung seine volle Unschuld an den Tag bringt. Damit
wird seine innere Wandlung eingeleitet. Junige Freundschaft verbindet ihn mit
dem originellen Schulmeister (der köstlichsten Figur des Buches!), der aus Furcht
vor dem gestrengen Pfarrer in aller Heimlichkeit Lucrez und andre freigeistige
Heiden liest. Durch diesen Umgang wird Pavel noch einigermaßen gebildet, er
bemüht sich nun auch, seinen Übeln Ruf in der Dorfschaft zu tilgen. Dies ge¬
lingt ihm und ebenso auch, sich nach unsagbaren Mühen zu einem kleinen Besitz¬
tum zu verhelfen, in welchem er seine Mutter aufzunehmen gedenkt, wenn sie endlich
wieder in die Freiheit käme. Zur Schwester Milada zog ihn leidenschaftliche
Sehnsucht: das Kloster stellte sich zwischen beide. Die asketische Erziehung zur
Nonne hat dem Mädchen aber einen frühen Tod gebracht.
Man sieht in diesem zwischen Dorf, Schloß und Stadt gespannten Rahmen
einen Reichtum von meisterlich gezeichneten Figuren. Die Zeichnung der stillen,
schleichenden, mit süßlicher Frömmigkeit verbrämten Gewalt der Nonnen ist eine
bewunderungswürdig feine Satire. Die gute Schloßfrau wächst einem beim Lesen
ans Herz. Die kokette Hirtentochtcr Viuska, welche den verliebten Pavel so lange
am Schnürchen hält, bis sie die Gattin des reichen Peter wird, ist eine Schwester
der mächtigeren Sternsteinhofbäuerin Anzcngrubers — kurz, alles ist trefflich ge¬
lungen, und zu bedauern ist nur — der Mangel eines dritten Bandes, denn unser
Interesse an Pavel ist mit der Ankunft der Mutter noch nicht erloschen.
Aus schwerer Vergangenheit. Ein Gcschichtencuklus von Wilhelm Imsen. Leipzig,
B. Elischer.
Wilhelm Imsen, von Haus aus eine phantasievolle, tiefpoetische Natur, neigt
doch gelegentlich zu einer melodramatischen Steigerung oder vielmehr Häufung der
Effekte und noch öfter zu einem Manierismus der Motive und des Vortrags, welche
auch durch seine glänzende Schilderungsgabe, sein leidenschaftliches Mitgefühl für
menschliches Elend, durch einen Blick, der oft in die verborgenste Tiefe der Seelen hinab¬
reicht, nicht aufgewogen werden. So hinterlassen die erzählenden Schriften Jensens
merkwürdig ungleiche Eindrücke und unterliegen sehr verschiedner Beurteilung, je
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