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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Gin erfreuliches Stück Antoritäisglunbens.

falschen Entscheidung folgen, so würde es dem höchsten Gerichtshofe noch weit
schwerer werden, aus dem Irrtume wieder herauszukommen. Diese aus einer
einheitliche,? höchsten Rechtsprechung erwachsende Gefahr kann nur abgewendet
werden, wenn auch die untern Instanzen sich die Aufgabe stellen, an der Aus¬
bildung des im höhern Sinne wissenschaftlichen Rechtes selbständig mitzuarbeiten,
und wenn sie demgemäß bei weiter" Fällen, die mitunter durch die veränderte
Sachlage die nämliche Rechtsfrage in einem ganz neuen Lichte erscheinen lassen,
durch selbständig getroffene Entscheidungen dem höchsten Gerichtshöfe Veran¬
lassung geben, die Frage von neuem zu prüfen. Eine sklavische Unterwerfung
der untern Instanzen in solchen Fragen unter die höchstinstanzlichcn Entschei¬
dungen würde im Laufe der Zeit zu einer völligen Verknöcherung des Rechtes
führen, und damit würde zugleich der praktische Wert der Rechtsprechung tief
sinken.

Dies umsomehr, als bei einer derartigen Benutzung der Präjudikate auch
uoch eine Gefahr ganz andrer Art droht. Wer unsre Praxis genauer beobachtet,
dem wird es nicht entgehen, daß sie nicht selten durchaus richtige Entscheidungen
giebt auf Grund unzulänglicher oder vielleicht geradezu falscher Theorien, welche
in den Entschcidungsgründen ihren Ausdruck finden. Man wird vielleicht fragen,
wie das möglich sei. In der That machen die Praktiker solche Entscheidungen
mit ihrem praktischen Rechtsgefühl und setzen dann die Theorien, so gut sie sie
eben haben können, davor. Auch die Entscheidungen des Reichsgerichts sind
über diese Erscheinung nicht erhaben. Wenn nun die Gerichte der Voriustauzeu
sich die Aussprüche des Reichsgerichts blindlings zur Richtschnur nehmen, so
geschieht es gar leicht, daß sie solche Entscheidungsgründe gewissermaßen mit
der Papierscheere herausschneiden und daraufhin eine Entscheidung geben, für
welche diese Gründe nur scheinbar passen und welche vielleicht das Reichsgericht
selbst niemals auf diese Gründe gebaut haben würde. Mit andern Worten:
der blinde Präjudizieukultus führt nicht allein dahin, daß falsche Entscheidungen
der höchsten Instanz eine leidige Propaganda machen, sondern anch dahin, daß
zu richtigen Entscheidungen gegebene unrichtige oder auch mir ungenaue Ent-
scheidungsgrttnde ein selbständiges Leben beginnen und dadurch die Quelle uoch
viel schlimmerer Irrtümer werden. Der Richter, welcher Instanz er auch au¬
gehören mag, sollte das eigentlich wissenschaftliche Recht niemals auf irgend
eine Autorität hin blindlings anwenden, sondern stets durch Selbstdenken sich
die geistige Herrschaft darüber bewahren. Dazu braucht man keine großen wissen¬
schaftlichen Studien mit umfassenden litterarischen Hilfsmitteln zu machen. Noch
weniger bedarf es dazu in den Entscheidungen weitausholender wissenschaftlicher
Erörterungen, die selbst in den Urteilen des Reichsgerichts nur vom Übel sind.
Was hier vom Richter verlangt wird, ist uur das, daß er das eigne Denken
und die Bethätigung seines praktischen Rechtssinnes auch einer höchstinstanzlichen
Entscheidung gegenüber nicht völlig aufgebe.


Gin erfreuliches Stück Antoritäisglunbens.

falschen Entscheidung folgen, so würde es dem höchsten Gerichtshofe noch weit
schwerer werden, aus dem Irrtume wieder herauszukommen. Diese aus einer
einheitliche,? höchsten Rechtsprechung erwachsende Gefahr kann nur abgewendet
werden, wenn auch die untern Instanzen sich die Aufgabe stellen, an der Aus¬
bildung des im höhern Sinne wissenschaftlichen Rechtes selbständig mitzuarbeiten,
und wenn sie demgemäß bei weiter» Fällen, die mitunter durch die veränderte
Sachlage die nämliche Rechtsfrage in einem ganz neuen Lichte erscheinen lassen,
durch selbständig getroffene Entscheidungen dem höchsten Gerichtshöfe Veran¬
lassung geben, die Frage von neuem zu prüfen. Eine sklavische Unterwerfung
der untern Instanzen in solchen Fragen unter die höchstinstanzlichcn Entschei¬
dungen würde im Laufe der Zeit zu einer völligen Verknöcherung des Rechtes
führen, und damit würde zugleich der praktische Wert der Rechtsprechung tief
sinken.

Dies umsomehr, als bei einer derartigen Benutzung der Präjudikate auch
uoch eine Gefahr ganz andrer Art droht. Wer unsre Praxis genauer beobachtet,
dem wird es nicht entgehen, daß sie nicht selten durchaus richtige Entscheidungen
giebt auf Grund unzulänglicher oder vielleicht geradezu falscher Theorien, welche
in den Entschcidungsgründen ihren Ausdruck finden. Man wird vielleicht fragen,
wie das möglich sei. In der That machen die Praktiker solche Entscheidungen
mit ihrem praktischen Rechtsgefühl und setzen dann die Theorien, so gut sie sie
eben haben können, davor. Auch die Entscheidungen des Reichsgerichts sind
über diese Erscheinung nicht erhaben. Wenn nun die Gerichte der Voriustauzeu
sich die Aussprüche des Reichsgerichts blindlings zur Richtschnur nehmen, so
geschieht es gar leicht, daß sie solche Entscheidungsgründe gewissermaßen mit
der Papierscheere herausschneiden und daraufhin eine Entscheidung geben, für
welche diese Gründe nur scheinbar passen und welche vielleicht das Reichsgericht
selbst niemals auf diese Gründe gebaut haben würde. Mit andern Worten:
der blinde Präjudizieukultus führt nicht allein dahin, daß falsche Entscheidungen
der höchsten Instanz eine leidige Propaganda machen, sondern anch dahin, daß
zu richtigen Entscheidungen gegebene unrichtige oder auch mir ungenaue Ent-
scheidungsgrttnde ein selbständiges Leben beginnen und dadurch die Quelle uoch
viel schlimmerer Irrtümer werden. Der Richter, welcher Instanz er auch au¬
gehören mag, sollte das eigentlich wissenschaftliche Recht niemals auf irgend
eine Autorität hin blindlings anwenden, sondern stets durch Selbstdenken sich
die geistige Herrschaft darüber bewahren. Dazu braucht man keine großen wissen¬
schaftlichen Studien mit umfassenden litterarischen Hilfsmitteln zu machen. Noch
weniger bedarf es dazu in den Entscheidungen weitausholender wissenschaftlicher
Erörterungen, die selbst in den Urteilen des Reichsgerichts nur vom Übel sind.
Was hier vom Richter verlangt wird, ist uur das, daß er das eigne Denken
und die Bethätigung seines praktischen Rechtssinnes auch einer höchstinstanzlichen
Entscheidung gegenüber nicht völlig aufgebe.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/540>, abgerufen am 21.06.2024.