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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

dabei zu verfahren gedachte, hätten freilich den Mitgliedern der Goethcgesell-
schaft unterbreitet und darüber in öffentlicher Sitzung verhandelt werden sollen;
das hätten die Sache und der Geist der Zeit gefordert. Aber man zog es vor,
die freie Besprechung zu vermeiden, die Grundsätze einseitig festzustellen und sie
nach Belieben einzelnen mitzuteilen, dann neben den eigentlichen Redaktoren eine
große Zahl von Mitarbeitern zu ernennen (einschließlich der Redaktoren 67),
von denen wohl manche nur uonorls gewählt wurden. Und doch wäre
nichts notwendiger gewesen, als die leitenden Grundsätze bis ins einzelnste so
genau festzustellen, daß eine wesentliche Abweichung unmöglich geworden wäre,
wenn auch die verschiednen Ansichten so vieler an Umfang der Kenntnis und
Reife des Urteils ungleicher Mitarbeiter die erwünschte Einheit des Stand¬
punktes noch immer hindern mußten.

Vor kurzem ist die erste Lieferung dieser ersehnten Ausgabe erschienen:
zwei Bände der eigentlich schönwissenschaftlichen Werke (ohne besondern Ab¬
teilungstitel), zwei der dritten Abteilung (Briefe) und einer der vierten (Tage¬
bücher). Der erste Band enthält den Anfang der Gedichte, mit Vorwort und
Vorbericht zu den sämtlichen schönwissenschaftlicheu Werken. Als Vorredner tritt
Herman Grimm auf. Wir halten niemand für berechtigt, vor Goethes Werken
für ihn das Wort zu ergreifen. Sein Name sagt mehr als alle Worte. Was
das Vorwort Thatsächliches enthält, gehört in den von Snphan im Namen der
Redaktoren gegebenen Vorbericht. Das Lob der Enkel, die nicht im Sinne des
rastlos wirkenden großen Ahnen handelten, die, statt thätig einzugreifen, das
Archiv sperrten und vermodern ließen, paßt nicht in eine Ausgabe seiner
Werke. Dadurch, daß der Tod sie endlich dazu trieb, das Archiv in sichere Hut
zu stellen, sind sie keineswegs, wie Grimm sagt, dem Großvater wieder nahe
getreten, keineswegs durch geistige Bande neu mit ihm vereinigt worden. Bei
Lebzeiten haben sie den Verleger nur stets gehindert, nie gefördert, erst in den
letzten Jahren durch einen wenig dazu berufenen Freund selbst Mitteilungen
veranlaßt. Leider können wir ebenso wenig den schönen Traum mittränmen,
daß die neue Ausgabe der Werke "als Merkmal eines geistigen Umschwunges
gelten" werde. Eine Ausgabe der Werke in etwa neunzig Bänden wird die
nicht anziehen, denen bisher ein Drittel davon zu viel war; das, was bis heute
so viele trotz aller hohen Worte gleichgiltig oder zu Gegnern des Dichters, des
Natnrweisen und Menschen gemacht hat, wird dadurch nicht überwunden. "In
Zukunft wird jeder nun leicht wissen können -- denkt sich Grimm --, wie einer
der größten Männer Deutschlands von Tage zu Tage gelebt hat." Aber wie
wenige verlangen darnach! Die meisten spotten über das Bestreben, alles und
jedes über Goethe zu erfahren, nehmen so wenig Anteil an dem Menschen, daß
sie sich nicht scheuen, es für ganz gleichgiltig zu erklären, ob der alte Goethe
ein verliebter Narr gewesen oder nicht. Zur Verscheuchung des herrschenden
Vorurteils gegen Goethe bedarf es ganz andrer Hebel als seiner großen Ausgabe


Die Weimarer Gesamtausgabe von Goethes Werken.

dabei zu verfahren gedachte, hätten freilich den Mitgliedern der Goethcgesell-
schaft unterbreitet und darüber in öffentlicher Sitzung verhandelt werden sollen;
das hätten die Sache und der Geist der Zeit gefordert. Aber man zog es vor,
die freie Besprechung zu vermeiden, die Grundsätze einseitig festzustellen und sie
nach Belieben einzelnen mitzuteilen, dann neben den eigentlichen Redaktoren eine
große Zahl von Mitarbeitern zu ernennen (einschließlich der Redaktoren 67),
von denen wohl manche nur uonorls gewählt wurden. Und doch wäre
nichts notwendiger gewesen, als die leitenden Grundsätze bis ins einzelnste so
genau festzustellen, daß eine wesentliche Abweichung unmöglich geworden wäre,
wenn auch die verschiednen Ansichten so vieler an Umfang der Kenntnis und
Reife des Urteils ungleicher Mitarbeiter die erwünschte Einheit des Stand¬
punktes noch immer hindern mußten.

Vor kurzem ist die erste Lieferung dieser ersehnten Ausgabe erschienen:
zwei Bände der eigentlich schönwissenschaftlichen Werke (ohne besondern Ab¬
teilungstitel), zwei der dritten Abteilung (Briefe) und einer der vierten (Tage¬
bücher). Der erste Band enthält den Anfang der Gedichte, mit Vorwort und
Vorbericht zu den sämtlichen schönwissenschaftlicheu Werken. Als Vorredner tritt
Herman Grimm auf. Wir halten niemand für berechtigt, vor Goethes Werken
für ihn das Wort zu ergreifen. Sein Name sagt mehr als alle Worte. Was
das Vorwort Thatsächliches enthält, gehört in den von Snphan im Namen der
Redaktoren gegebenen Vorbericht. Das Lob der Enkel, die nicht im Sinne des
rastlos wirkenden großen Ahnen handelten, die, statt thätig einzugreifen, das
Archiv sperrten und vermodern ließen, paßt nicht in eine Ausgabe seiner
Werke. Dadurch, daß der Tod sie endlich dazu trieb, das Archiv in sichere Hut
zu stellen, sind sie keineswegs, wie Grimm sagt, dem Großvater wieder nahe
getreten, keineswegs durch geistige Bande neu mit ihm vereinigt worden. Bei
Lebzeiten haben sie den Verleger nur stets gehindert, nie gefördert, erst in den
letzten Jahren durch einen wenig dazu berufenen Freund selbst Mitteilungen
veranlaßt. Leider können wir ebenso wenig den schönen Traum mittränmen,
daß die neue Ausgabe der Werke „als Merkmal eines geistigen Umschwunges
gelten" werde. Eine Ausgabe der Werke in etwa neunzig Bänden wird die
nicht anziehen, denen bisher ein Drittel davon zu viel war; das, was bis heute
so viele trotz aller hohen Worte gleichgiltig oder zu Gegnern des Dichters, des
Natnrweisen und Menschen gemacht hat, wird dadurch nicht überwunden. „In
Zukunft wird jeder nun leicht wissen können — denkt sich Grimm —, wie einer
der größten Männer Deutschlands von Tage zu Tage gelebt hat." Aber wie
wenige verlangen darnach! Die meisten spotten über das Bestreben, alles und
jedes über Goethe zu erfahren, nehmen so wenig Anteil an dem Menschen, daß
sie sich nicht scheuen, es für ganz gleichgiltig zu erklären, ob der alte Goethe
ein verliebter Narr gewesen oder nicht. Zur Verscheuchung des herrschenden
Vorurteils gegen Goethe bedarf es ganz andrer Hebel als seiner großen Ausgabe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/39>, abgerufen am 21.06.2024.