Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.Der Arzt und der Aranke. Zeit eine so gewaltige Ausdehnung gewonnen haben, und das Mißliche derselben Die Sitte des Hausarztes, welcher, von dem Vertrauen seiner Klienten ge¬ Wer nach reiflicher Überlegung eiuen Arzt gewählt hat, halte an ihm Der Arzt und der Aranke. Zeit eine so gewaltige Ausdehnung gewonnen haben, und das Mißliche derselben Die Sitte des Hausarztes, welcher, von dem Vertrauen seiner Klienten ge¬ Wer nach reiflicher Überlegung eiuen Arzt gewählt hat, halte an ihm <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202126"/> <fw type="header" place="top"> Der Arzt und der Aranke.</fw><lb/> <p xml:id="ID_57" prev="#ID_56"> Zeit eine so gewaltige Ausdehnung gewonnen haben, und das Mißliche derselben<lb/> eine anhaltende Bewegung in den ärztlichen Kreisen hervorgerufen hat. Neigung<lb/> und Gewohnheit legen mir aber eine Betrachtung der freien ärztlichen Thätig¬<lb/> keit näher.</p><lb/> <p xml:id="ID_58"> Die Sitte des Hausarztes, welcher, von dem Vertrauen seiner Klienten ge¬<lb/> tragen, in jeder Krankheit und in manchen andern wichtigen Lebensfragen um<lb/> seinen bewährten Rat angegangen wurde, welcher, mit den Gewohnheiten des<lb/> Hauses, der körperlichen und geistigen Verfassung jedes Familiengliedes vertraut,<lb/> mit liebevollem Interesse, mit Muße im schönen Sinne dieses Wortes jedes<lb/> Vorkommnis in diesem Kreise verfolgend, Krankheit und andres Ungemach ab¬<lb/> zuwehren und zu mildern bestrebt, in dieser vertrauten Stellung zum Hause<lb/> sich oft noch ans das folgende Geschlecht vererbte — diese gute alte Sitte hat<lb/> vor allem Seßhaftigkeit, eine gleichmäßige Auffassung der Dinge und eine ge¬<lb/> wisse Neigung zum Beharren in den verschiednen Beziehungen des Lebens zur<lb/> Voraussetzung. Je mehr diese Bedingungen in unsrer äußerlich wie innerlich<lb/> unruhigen Zeit schwinden, desto mehr wandert auch der Hausarzt zu deu ver¬<lb/> alteten Gewohnheiten. Man wählt heute einen Arzt am Orte der neuen Nieder-<lb/> lassung, weil gute Freunde ihn als tüchtig und liebenswürdig empfehlen, viel¬<lb/> leicht auch nur, weil ihn der Hausherr in der Kneipe als „famosen Kerl"<lb/> kennen gelernt hat. Unerfreulicher sind die geschäftlichen Rücksichten, welche in<lb/> kleinen Städten häufig den Ausschlag geben: der Schneider, der Fleischer, der<lb/> Bäcker, von denen die Familie des Arztes ihren täglichen Bedarf bezieht, fühlt<lb/> sich verpflichtet, sich in Krankheitsfällen an diesen zu wenden, wechselt den Arzt<lb/> aber natürlich ohne großes Bedenken, um auch einem andern Kunden einmal<lb/> „fein besondres Vertrauen" zu beweisen. Nicht selten sind auch die wirklich<lb/> oder vermeintlich geringen Ansprüche dieses oder jenes Arztes maßgebend. So<lb/> etwas ist doch in uusern anständigen Kreisen unmöglich! wird mancher Leser<lb/> denken. Darauf will ich zweierlei erwiedern. Ich mußte einmal in einer<lb/> „distingunten" Abendgesellschaft Ohrenzeuge sein, wie der Wirt im Laufe des<lb/> Gespräches seinen Arzt wegen dessen kolossal billiger Rechnungen einige» Gästen<lb/> in empfehlende Erinnerung brachte. Sodann aber möchte ich wohl, daß auch<lb/> die Leser dieser Zeitschrift, welche sich von derartigen Beweggründen frei fühlen,<lb/> hiervon und von andern unliebsamen Erscheinungen Kenntnis nähmen, nicht um<lb/> gerade ihnen ins Gewissen zu reden, sondern damit sie in Rücksicht auf solche<lb/> außerhalb ihres engern Gesichtskreises liegenden Verhältnisse einen Arzt, der<lb/> alledem ausgesetzt ist, gelegentlich mit noch etwas freundlicherem Wohlwollen<lb/> beurteilen.</p><lb/> <p xml:id="ID_59" next="#ID_60"> Wer nach reiflicher Überlegung eiuen Arzt gewählt hat, halte an ihm<lb/> möglichst fest und lasse sich in seinem Vertrauen nicht gleich durch jedes uner¬<lb/> wünschte Vorkommnis erschüttern. Vertrauen ist eine feine Sache, es läßt sich<lb/> nicht taufen und wechseln wie eine Waare, es will erworben, gepflegt und be-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Der Arzt und der Aranke.
Zeit eine so gewaltige Ausdehnung gewonnen haben, und das Mißliche derselben
eine anhaltende Bewegung in den ärztlichen Kreisen hervorgerufen hat. Neigung
und Gewohnheit legen mir aber eine Betrachtung der freien ärztlichen Thätig¬
keit näher.
Die Sitte des Hausarztes, welcher, von dem Vertrauen seiner Klienten ge¬
tragen, in jeder Krankheit und in manchen andern wichtigen Lebensfragen um
seinen bewährten Rat angegangen wurde, welcher, mit den Gewohnheiten des
Hauses, der körperlichen und geistigen Verfassung jedes Familiengliedes vertraut,
mit liebevollem Interesse, mit Muße im schönen Sinne dieses Wortes jedes
Vorkommnis in diesem Kreise verfolgend, Krankheit und andres Ungemach ab¬
zuwehren und zu mildern bestrebt, in dieser vertrauten Stellung zum Hause
sich oft noch ans das folgende Geschlecht vererbte — diese gute alte Sitte hat
vor allem Seßhaftigkeit, eine gleichmäßige Auffassung der Dinge und eine ge¬
wisse Neigung zum Beharren in den verschiednen Beziehungen des Lebens zur
Voraussetzung. Je mehr diese Bedingungen in unsrer äußerlich wie innerlich
unruhigen Zeit schwinden, desto mehr wandert auch der Hausarzt zu deu ver¬
alteten Gewohnheiten. Man wählt heute einen Arzt am Orte der neuen Nieder-
lassung, weil gute Freunde ihn als tüchtig und liebenswürdig empfehlen, viel¬
leicht auch nur, weil ihn der Hausherr in der Kneipe als „famosen Kerl"
kennen gelernt hat. Unerfreulicher sind die geschäftlichen Rücksichten, welche in
kleinen Städten häufig den Ausschlag geben: der Schneider, der Fleischer, der
Bäcker, von denen die Familie des Arztes ihren täglichen Bedarf bezieht, fühlt
sich verpflichtet, sich in Krankheitsfällen an diesen zu wenden, wechselt den Arzt
aber natürlich ohne großes Bedenken, um auch einem andern Kunden einmal
„fein besondres Vertrauen" zu beweisen. Nicht selten sind auch die wirklich
oder vermeintlich geringen Ansprüche dieses oder jenes Arztes maßgebend. So
etwas ist doch in uusern anständigen Kreisen unmöglich! wird mancher Leser
denken. Darauf will ich zweierlei erwiedern. Ich mußte einmal in einer
„distingunten" Abendgesellschaft Ohrenzeuge sein, wie der Wirt im Laufe des
Gespräches seinen Arzt wegen dessen kolossal billiger Rechnungen einige» Gästen
in empfehlende Erinnerung brachte. Sodann aber möchte ich wohl, daß auch
die Leser dieser Zeitschrift, welche sich von derartigen Beweggründen frei fühlen,
hiervon und von andern unliebsamen Erscheinungen Kenntnis nähmen, nicht um
gerade ihnen ins Gewissen zu reden, sondern damit sie in Rücksicht auf solche
außerhalb ihres engern Gesichtskreises liegenden Verhältnisse einen Arzt, der
alledem ausgesetzt ist, gelegentlich mit noch etwas freundlicherem Wohlwollen
beurteilen.
Wer nach reiflicher Überlegung eiuen Arzt gewählt hat, halte an ihm
möglichst fest und lasse sich in seinem Vertrauen nicht gleich durch jedes uner¬
wünschte Vorkommnis erschüttern. Vertrauen ist eine feine Sache, es läßt sich
nicht taufen und wechseln wie eine Waare, es will erworben, gepflegt und be-
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