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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei Wiegen.

dem Ballinschen Gute in Anspruch nimmt. Jobüa entstammt einem gleichfalls
mit einem Wiegenaberglauben behafteten Geschlechte, dessen Ahnen aber weder
sittlich noch körperlich mustergiltige Menschen waren. Jobäa ist mit so vielen
Gebresten behaftet, sie ist nicht bloß verwachsen, gelähmt, sondern auch in einer
Weise herzleidend, daß sie täglich zwei oder drei mal von lange Minuten an¬
dauernden Krämpfen befallen wird. Sie ist so nervös, daß sie nicht die geringste
Ortsveränderung verträgt, sie muß seit vielen Jahren in demselben Zimmerchen
das Bett hüten und kann daher nicht zu ihrer Schwester übersiedeln, die ebenso
gelähmt an ihre Scholle gefesselt ist. Dabei ist diese sieche Frau ein Ideal
von Herzensgüte, ein Genie von Weisheit und Begabung. Während der
Krampfstarre des Herzens ist ihre Gehirnthätigkeit infolge des Blutandranges
zum Kopfe bis in Hellsichtigkeit gesteigert. Ihre Muße verbringt sie mit wissen¬
schaftlicher Lektüre; die unverstandenen Probleme löst sie sich in einem hell¬
sichtigen Zustande, der ihr gleichzeitig das Bewußtsein der Schmerze" lindert.
An diesem fabelhaften Wesen bekundet Loris seine fabelhaften Talente. Er hat
schon eine Arznei bei der Hand, welche ihre Herzkrämpfe vermindert und
mildert. Er hat den beredten Mund, sie zu überzeugen, daß sie sich doch
eigentlich glücklich fühlen müsse, da sie das Glück der Erkenntnis vor allen andern
gefunden Frauen voraussähe, die, selbst höher begabt, in der Philister" des
Kindererziehens geistig verkümmern. Loris meint das ganz ernsthaft und vergißt
dabei nur der "Philistern" seiner maßlos geliebten Großmutter und seiner
Mutter. Als ein Meisterstück menschlicher Herrschaft über die Natur bewerk¬
stelligt er nun die Überführung der siechen Jobäa auf einem mit großen Kosten
und nach zahllosen Schwierigkeiten eingerichteten Wasserwege zu der lange ver¬
geblich ersehnten Schwester. So fabelhaft diese ganze naturwissenschaftliche
Phantasie (nicht unebenbürtig einem Jules Verne) ist, so muß man doch einiger
poetisch feinen Einzelheiten darin gedenken. Die schönste ist das Staunen der
mit Bücherweisheit erfüllten Jobäa über die Herrlichkeit des Sternenhimmels,
der sonnenbeschienenen Landschaft, des alltäglichen Anblicks der Gesunden. Denn
sie hat durch die schmale Fensteröffnung von all der Naturschönheit ihr Leben
lang mir eine Ahnung erwerben können, und ihr Gefühl endlich beim Genuß
derselben ist, mit wie unmöglichen Motiven es auch vorbereitet sein mag,
zweifellos von tief dichterischer Wirkung.

Ein andres medizinisch-interessantes, aber ebenso fabelhaftes Krüppelwesen,
an dem sich Loris Lelands pädagogische Kunst bewährt, ist Agnetens Bruder
Nickel (Nikolaus) Bojar. Als Knabe geriet er unter die Mühlräder, seine Füße
wurden zermalmt, beide mußten ihm abgelöst werden. Ein genialer Chirurg
hat ihm ein Wägelchen ersonnen, dessen Räder der fnßbercmbte, aber umso
stärker in der Muskelkraft der Hände gediehene Nickel selbst in Bewegung setzen
lernte, und zwar so rasch, daß er mit der Geschwindigkeit eines von Pferden
gezogenen Wagens sich fortbewegen kann. Sein Kopf ist ihm aber dnrch seine


Zwei Wiegen.

dem Ballinschen Gute in Anspruch nimmt. Jobüa entstammt einem gleichfalls
mit einem Wiegenaberglauben behafteten Geschlechte, dessen Ahnen aber weder
sittlich noch körperlich mustergiltige Menschen waren. Jobäa ist mit so vielen
Gebresten behaftet, sie ist nicht bloß verwachsen, gelähmt, sondern auch in einer
Weise herzleidend, daß sie täglich zwei oder drei mal von lange Minuten an¬
dauernden Krämpfen befallen wird. Sie ist so nervös, daß sie nicht die geringste
Ortsveränderung verträgt, sie muß seit vielen Jahren in demselben Zimmerchen
das Bett hüten und kann daher nicht zu ihrer Schwester übersiedeln, die ebenso
gelähmt an ihre Scholle gefesselt ist. Dabei ist diese sieche Frau ein Ideal
von Herzensgüte, ein Genie von Weisheit und Begabung. Während der
Krampfstarre des Herzens ist ihre Gehirnthätigkeit infolge des Blutandranges
zum Kopfe bis in Hellsichtigkeit gesteigert. Ihre Muße verbringt sie mit wissen¬
schaftlicher Lektüre; die unverstandenen Probleme löst sie sich in einem hell¬
sichtigen Zustande, der ihr gleichzeitig das Bewußtsein der Schmerze» lindert.
An diesem fabelhaften Wesen bekundet Loris seine fabelhaften Talente. Er hat
schon eine Arznei bei der Hand, welche ihre Herzkrämpfe vermindert und
mildert. Er hat den beredten Mund, sie zu überzeugen, daß sie sich doch
eigentlich glücklich fühlen müsse, da sie das Glück der Erkenntnis vor allen andern
gefunden Frauen voraussähe, die, selbst höher begabt, in der Philister« des
Kindererziehens geistig verkümmern. Loris meint das ganz ernsthaft und vergißt
dabei nur der „Philistern" seiner maßlos geliebten Großmutter und seiner
Mutter. Als ein Meisterstück menschlicher Herrschaft über die Natur bewerk¬
stelligt er nun die Überführung der siechen Jobäa auf einem mit großen Kosten
und nach zahllosen Schwierigkeiten eingerichteten Wasserwege zu der lange ver¬
geblich ersehnten Schwester. So fabelhaft diese ganze naturwissenschaftliche
Phantasie (nicht unebenbürtig einem Jules Verne) ist, so muß man doch einiger
poetisch feinen Einzelheiten darin gedenken. Die schönste ist das Staunen der
mit Bücherweisheit erfüllten Jobäa über die Herrlichkeit des Sternenhimmels,
der sonnenbeschienenen Landschaft, des alltäglichen Anblicks der Gesunden. Denn
sie hat durch die schmale Fensteröffnung von all der Naturschönheit ihr Leben
lang mir eine Ahnung erwerben können, und ihr Gefühl endlich beim Genuß
derselben ist, mit wie unmöglichen Motiven es auch vorbereitet sein mag,
zweifellos von tief dichterischer Wirkung.

Ein andres medizinisch-interessantes, aber ebenso fabelhaftes Krüppelwesen,
an dem sich Loris Lelands pädagogische Kunst bewährt, ist Agnetens Bruder
Nickel (Nikolaus) Bojar. Als Knabe geriet er unter die Mühlräder, seine Füße
wurden zermalmt, beide mußten ihm abgelöst werden. Ein genialer Chirurg
hat ihm ein Wägelchen ersonnen, dessen Räder der fnßbercmbte, aber umso
stärker in der Muskelkraft der Hände gediehene Nickel selbst in Bewegung setzen
lernte, und zwar so rasch, daß er mit der Geschwindigkeit eines von Pferden
gezogenen Wagens sich fortbewegen kann. Sein Kopf ist ihm aber dnrch seine


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[0208] Zwei Wiegen. dem Ballinschen Gute in Anspruch nimmt. Jobüa entstammt einem gleichfalls mit einem Wiegenaberglauben behafteten Geschlechte, dessen Ahnen aber weder sittlich noch körperlich mustergiltige Menschen waren. Jobäa ist mit so vielen Gebresten behaftet, sie ist nicht bloß verwachsen, gelähmt, sondern auch in einer Weise herzleidend, daß sie täglich zwei oder drei mal von lange Minuten an¬ dauernden Krämpfen befallen wird. Sie ist so nervös, daß sie nicht die geringste Ortsveränderung verträgt, sie muß seit vielen Jahren in demselben Zimmerchen das Bett hüten und kann daher nicht zu ihrer Schwester übersiedeln, die ebenso gelähmt an ihre Scholle gefesselt ist. Dabei ist diese sieche Frau ein Ideal von Herzensgüte, ein Genie von Weisheit und Begabung. Während der Krampfstarre des Herzens ist ihre Gehirnthätigkeit infolge des Blutandranges zum Kopfe bis in Hellsichtigkeit gesteigert. Ihre Muße verbringt sie mit wissen¬ schaftlicher Lektüre; die unverstandenen Probleme löst sie sich in einem hell¬ sichtigen Zustande, der ihr gleichzeitig das Bewußtsein der Schmerze» lindert. An diesem fabelhaften Wesen bekundet Loris seine fabelhaften Talente. Er hat schon eine Arznei bei der Hand, welche ihre Herzkrämpfe vermindert und mildert. Er hat den beredten Mund, sie zu überzeugen, daß sie sich doch eigentlich glücklich fühlen müsse, da sie das Glück der Erkenntnis vor allen andern gefunden Frauen voraussähe, die, selbst höher begabt, in der Philister« des Kindererziehens geistig verkümmern. Loris meint das ganz ernsthaft und vergißt dabei nur der „Philistern" seiner maßlos geliebten Großmutter und seiner Mutter. Als ein Meisterstück menschlicher Herrschaft über die Natur bewerk¬ stelligt er nun die Überführung der siechen Jobäa auf einem mit großen Kosten und nach zahllosen Schwierigkeiten eingerichteten Wasserwege zu der lange ver¬ geblich ersehnten Schwester. So fabelhaft diese ganze naturwissenschaftliche Phantasie (nicht unebenbürtig einem Jules Verne) ist, so muß man doch einiger poetisch feinen Einzelheiten darin gedenken. Die schönste ist das Staunen der mit Bücherweisheit erfüllten Jobäa über die Herrlichkeit des Sternenhimmels, der sonnenbeschienenen Landschaft, des alltäglichen Anblicks der Gesunden. Denn sie hat durch die schmale Fensteröffnung von all der Naturschönheit ihr Leben lang mir eine Ahnung erwerben können, und ihr Gefühl endlich beim Genuß derselben ist, mit wie unmöglichen Motiven es auch vorbereitet sein mag, zweifellos von tief dichterischer Wirkung. Ein andres medizinisch-interessantes, aber ebenso fabelhaftes Krüppelwesen, an dem sich Loris Lelands pädagogische Kunst bewährt, ist Agnetens Bruder Nickel (Nikolaus) Bojar. Als Knabe geriet er unter die Mühlräder, seine Füße wurden zermalmt, beide mußten ihm abgelöst werden. Ein genialer Chirurg hat ihm ein Wägelchen ersonnen, dessen Räder der fnßbercmbte, aber umso stärker in der Muskelkraft der Hände gediehene Nickel selbst in Bewegung setzen lernte, und zwar so rasch, daß er mit der Geschwindigkeit eines von Pferden gezogenen Wagens sich fortbewegen kann. Sein Kopf ist ihm aber dnrch seine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/208>, abgerufen am 28.09.2024.