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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Zwei wiegen.

konnte. Loris heilte die Geistesgegenwart, ans dem Bauche ausgestreckt liegen
zu bleiben; so bat er das mutige Mädchen, ihm seinen buntfarbigen Shawl zu
leihen, damit er sich darein hüllen könne. Es geschah, indes Leonore sich
inzwischen abwendete. In das Odaliskentuch gehüllt, schritt Loris, von ihr
begleitet dem Strome zu, und der Entschluß stand bei ihm fest, dieses tapfre
Geschöpf zu heiraten. Er sagte es ihr auch kurz und bündig, nannte seinen
Namen, sie, verwirrt und trotzig, weigerte aber, sich selbst zu nennen, und nur
den abgebissenen Zipfel des Tuches und eine geraubte Alpenrose konnte Loris,
bevor er schwimmend sich verabschiedete, als Denkzeichen mitnehmen. Der rasche
Gedanke, das ans solch abenteuerliche Weise kennen gelernte Mädchen später zu
heiraten, ist psychologisch in Loris sehr gut begründet. Die Familienüberliefc-
rnng erfüllte ihn ganz, daß alle seine Ahnen sich mit Gewaltstreichen, meist
durch abenteuerliche Entführung, in den Besitz ihrer starkmütigen Gattinnen
gesetzt haben. Er entstammte einem Geschlechte, das sich stets in leidenschaft¬
licher Liebe fortpflanzte. Aus dem Kahne, in welchem einer seiner Vorfahren
aus einer belagerten Festung mit der Tochter des Kommandanten derselben
entflohen war, hatte man eine Wiege gezimmert, die sich von Geschlecht zu
Geschlecht forterbte. Es war Familienaberglaube, daß die jungen Lelcmds-
sprößlinge in dieser Wiege die ersten Lebenstage verbringen müßten, wenn sie
vor Leid und Gefahr in späterer Zeit geschützt sein wollten. Und dieser mäch¬
tige Familiensinn lebte auch in dem letzten Lelcmdwiegling, in Loris.

Sieben Jahre sind seit diescni weit und breit bekannt gewordenen Abenteuer
verstrichen. Leonore hatte sich in der Stille des Elternhauses zu einer kräftigen
und edeln Frciucngestalt entwickelt und im Geheimen dem kecken Freiwerber einen
wahren Kultus gewidmet. Ihr war es ganz sicher, daß er sie schon trotz
ihrer Verborgenheit finden werde. Loris hatte seinerseits auch lange Zeit an
der originellen Mädchenerscheinung festgehalten; allein unter den vielen ander"
Dingen, die er inzwischen kennen gelernt hatte, war auch die idealisch schöne
Müllerstochter Agnete, die ihn mit leidenschaftlicher Glut erfüllte und das
Bild der fernen, fremden, in der Verborgenheit weilenden Nausikcia verdunkelte.
Da fügt es die Romanvorsehung, daß Loris mit einem Schlage in die aller¬
nächste Nähe Lvrens und Agnetcns versetzt wird und nun in langem, schwerem
Herzenskampfe zwischen den beiden Mädchen schwanken und schließlich sich doch
für Lore entscheiden soll. Vater Lcland findet es nämlich für die Erziehung
seines soeben mit glänzendem Erfolge in die ärztliche Praxis eintretenden Sohnes
für nötig, daß dieser eine Weile den klinischen Räumen fernbleibe und die Land¬
wirtschaft auf einem großen Herrengute studire. Der Zufall will es, daß er
gerade auf das Ballinsche Gut, welches sich des Rufes einer Musterwirtschaft
erfreut, als willkommener Volontär gerät. Der Freiherr von Ballin, Lorens
Vater, eine liebenswürdige und lebenswahre Gestalt, nimmt ihn fcnnilienhaft
vertraulich ius Haus, ohne zu ahnen, daß eben Loris jener kecke Freiwerber


Zwei wiegen.

konnte. Loris heilte die Geistesgegenwart, ans dem Bauche ausgestreckt liegen
zu bleiben; so bat er das mutige Mädchen, ihm seinen buntfarbigen Shawl zu
leihen, damit er sich darein hüllen könne. Es geschah, indes Leonore sich
inzwischen abwendete. In das Odaliskentuch gehüllt, schritt Loris, von ihr
begleitet dem Strome zu, und der Entschluß stand bei ihm fest, dieses tapfre
Geschöpf zu heiraten. Er sagte es ihr auch kurz und bündig, nannte seinen
Namen, sie, verwirrt und trotzig, weigerte aber, sich selbst zu nennen, und nur
den abgebissenen Zipfel des Tuches und eine geraubte Alpenrose konnte Loris,
bevor er schwimmend sich verabschiedete, als Denkzeichen mitnehmen. Der rasche
Gedanke, das ans solch abenteuerliche Weise kennen gelernte Mädchen später zu
heiraten, ist psychologisch in Loris sehr gut begründet. Die Familienüberliefc-
rnng erfüllte ihn ganz, daß alle seine Ahnen sich mit Gewaltstreichen, meist
durch abenteuerliche Entführung, in den Besitz ihrer starkmütigen Gattinnen
gesetzt haben. Er entstammte einem Geschlechte, das sich stets in leidenschaft¬
licher Liebe fortpflanzte. Aus dem Kahne, in welchem einer seiner Vorfahren
aus einer belagerten Festung mit der Tochter des Kommandanten derselben
entflohen war, hatte man eine Wiege gezimmert, die sich von Geschlecht zu
Geschlecht forterbte. Es war Familienaberglaube, daß die jungen Lelcmds-
sprößlinge in dieser Wiege die ersten Lebenstage verbringen müßten, wenn sie
vor Leid und Gefahr in späterer Zeit geschützt sein wollten. Und dieser mäch¬
tige Familiensinn lebte auch in dem letzten Lelcmdwiegling, in Loris.

Sieben Jahre sind seit diescni weit und breit bekannt gewordenen Abenteuer
verstrichen. Leonore hatte sich in der Stille des Elternhauses zu einer kräftigen
und edeln Frciucngestalt entwickelt und im Geheimen dem kecken Freiwerber einen
wahren Kultus gewidmet. Ihr war es ganz sicher, daß er sie schon trotz
ihrer Verborgenheit finden werde. Loris hatte seinerseits auch lange Zeit an
der originellen Mädchenerscheinung festgehalten; allein unter den vielen ander»
Dingen, die er inzwischen kennen gelernt hatte, war auch die idealisch schöne
Müllerstochter Agnete, die ihn mit leidenschaftlicher Glut erfüllte und das
Bild der fernen, fremden, in der Verborgenheit weilenden Nausikcia verdunkelte.
Da fügt es die Romanvorsehung, daß Loris mit einem Schlage in die aller¬
nächste Nähe Lvrens und Agnetcns versetzt wird und nun in langem, schwerem
Herzenskampfe zwischen den beiden Mädchen schwanken und schließlich sich doch
für Lore entscheiden soll. Vater Lcland findet es nämlich für die Erziehung
seines soeben mit glänzendem Erfolge in die ärztliche Praxis eintretenden Sohnes
für nötig, daß dieser eine Weile den klinischen Räumen fernbleibe und die Land¬
wirtschaft auf einem großen Herrengute studire. Der Zufall will es, daß er
gerade auf das Ballinsche Gut, welches sich des Rufes einer Musterwirtschaft
erfreut, als willkommener Volontär gerät. Der Freiherr von Ballin, Lorens
Vater, eine liebenswürdige und lebenswahre Gestalt, nimmt ihn fcnnilienhaft
vertraulich ius Haus, ohne zu ahnen, daß eben Loris jener kecke Freiwerber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/206>, abgerufen am 28.09.2024.