Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.Zwei Wiegen. werden nicht mehr von den Theorien, die sie vertreten, erdrückt. Es ist das Dieser künstlerischen Absicht Jordans lag nun in dem neuen Roman die Be¬ Zwei Wiegen. werden nicht mehr von den Theorien, die sie vertreten, erdrückt. Es ist das Dieser künstlerischen Absicht Jordans lag nun in dem neuen Roman die Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0203" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202302"/> <fw type="header" place="top"> Zwei Wiegen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_727" prev="#ID_726"> werden nicht mehr von den Theorien, die sie vertreten, erdrückt. Es ist das<lb/> sichtbare Bestreben Jordans, den Geist der naturwissenschaftlichen Bildung als<lb/> in Fleisch und Blut übergegangen, durch alle Formen seines epischen Gemäldes,<lb/> in der Sprache, im Stil, in den Motiven der Handlungen und im Inhalt der¬<lb/> selben zu veranschaulichen. Der naturwissenschaftlich gebildete Dichter zeigt<lb/> sich zunächst als ein die ganze Welt mit seinem Wissen umfassender Empiriker.<lb/> Er spricht mit der Vertrautheit des Astronomen von der Stellung der Erde,<lb/> des Mondes u. s. w. im Weltall und mit der technischen Sachlichkeit des Gärtners<lb/> von den Pflanzen, den Werkzeugen und der Pflege des Gartens. Er ist in<lb/> jede Art gewerblicher Thätigkeit eingeweiht und bedient sich der Fachausdrücke<lb/> aus Grundsatz, ob er nun vom Müller oder vom Flößer, vom Förster, vom Sol¬<lb/> daten, vom Bildhauer, vom Turnlehrer, vom Arzte oder vom Nervenpathologen<lb/> spricht. Die einfache Bemerkung: „Du, du kannst laufen, denken und reden zu¬<lb/> gleich; ich nicht" kommentirt er sogleich, ohne Rücksicht darauf, daß er schwülstig<lb/> wird, mit der fachwissenschaftlich-medizinischen Erklärung: „Wenn der faule Tele¬<lb/> graphist in meinem Schädel dem Kehlkopf ein halbwegs schwieriges Stück zu<lb/> blasen aufgiebt, dann muß er die Klaviatur zu Marschbefehlen an die Beine<lb/> unberührt lassen" (I, 188). Dieses Beispiel für die weitgetriebene naturwissen¬<lb/> schaftliche Pedanterie Jordans mag zugleich für unzählige andre seiner Redens¬<lb/> arten dienen. Man kann nicht sagen, daß er das Bestreben habe, die Wissen¬<lb/> schaft zu „popularisiren"; sondern man muß zugestehen, daß er vom Stand¬<lb/> punkte des durch die Wissenschaft erweiterten und bereicherten Wirklichkeitssinnes<lb/> litterarisch, wenn man will, dichterisch reden will. Und hierin berührt er sich<lb/> mit Emil Zola, dessen Glaubensbekenntnis im ronn>.n öxvsrinisntiü am Ende<lb/> auf dieselbe Absicht hinausläuft, soviel auch im übrigen sich der brutale Franzose<lb/> vom idealistisch lehrhaften deutscheu Schriftsteller unterscheiden mag.</p><lb/> <p xml:id="ID_728" next="#ID_729"> Dieser künstlerischen Absicht Jordans lag nun in dem neuen Roman die Be¬<lb/> fehdung der dogmatischen Religion fern und er streift sie auch nur im Vorüber¬<lb/> gehen. Aber als der wahre Gegensatz dieser seiner naturwissenschaftlichen Bil¬<lb/> dung erscheint die transzendentale deutsche Philosophie, wie sie sich seit Kant<lb/> durch Hegel und Schopenhauer entwickelt hat. Es ist nicht der Gegensatz von<lb/> (metaphysischen) Materialismus und Idealismus. Man darf nicht sagen, daß<lb/> Jordan Materialist sei, schon deswegen nicht, weil seine Anschauung jede Meta¬<lb/> physik, welcher Schule sie auch immer angehören mag, von vornherein und<lb/> grundsätzlich ablehnt. Jordan gesteht lieber das IZ-norg-mus zu, als daß er<lb/> den Versuch wagte, auf anderm Wege als dem der Beobachtung, auf spekula¬<lb/> tivem Wege Erkenntnis zu suchen. Dabei hat er eine grenzenlose Zuversicht<lb/> in die Möglichkeit der Erweiterung aller sinnlichen Erkenntnis, aller Erfahrung,<lb/> und dieser Stolz beseelt seine in der Form vornehme und in der Sache über¬<lb/> zeugende Polemik gegen die spekulative Metaphysik. Schopenhauer ist der letzte<lb/> der alten Philosophen, welche in Deutschland weite Verbreitung gefunden haben,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0203]
Zwei Wiegen.
werden nicht mehr von den Theorien, die sie vertreten, erdrückt. Es ist das
sichtbare Bestreben Jordans, den Geist der naturwissenschaftlichen Bildung als
in Fleisch und Blut übergegangen, durch alle Formen seines epischen Gemäldes,
in der Sprache, im Stil, in den Motiven der Handlungen und im Inhalt der¬
selben zu veranschaulichen. Der naturwissenschaftlich gebildete Dichter zeigt
sich zunächst als ein die ganze Welt mit seinem Wissen umfassender Empiriker.
Er spricht mit der Vertrautheit des Astronomen von der Stellung der Erde,
des Mondes u. s. w. im Weltall und mit der technischen Sachlichkeit des Gärtners
von den Pflanzen, den Werkzeugen und der Pflege des Gartens. Er ist in
jede Art gewerblicher Thätigkeit eingeweiht und bedient sich der Fachausdrücke
aus Grundsatz, ob er nun vom Müller oder vom Flößer, vom Förster, vom Sol¬
daten, vom Bildhauer, vom Turnlehrer, vom Arzte oder vom Nervenpathologen
spricht. Die einfache Bemerkung: „Du, du kannst laufen, denken und reden zu¬
gleich; ich nicht" kommentirt er sogleich, ohne Rücksicht darauf, daß er schwülstig
wird, mit der fachwissenschaftlich-medizinischen Erklärung: „Wenn der faule Tele¬
graphist in meinem Schädel dem Kehlkopf ein halbwegs schwieriges Stück zu
blasen aufgiebt, dann muß er die Klaviatur zu Marschbefehlen an die Beine
unberührt lassen" (I, 188). Dieses Beispiel für die weitgetriebene naturwissen¬
schaftliche Pedanterie Jordans mag zugleich für unzählige andre seiner Redens¬
arten dienen. Man kann nicht sagen, daß er das Bestreben habe, die Wissen¬
schaft zu „popularisiren"; sondern man muß zugestehen, daß er vom Stand¬
punkte des durch die Wissenschaft erweiterten und bereicherten Wirklichkeitssinnes
litterarisch, wenn man will, dichterisch reden will. Und hierin berührt er sich
mit Emil Zola, dessen Glaubensbekenntnis im ronn>.n öxvsrinisntiü am Ende
auf dieselbe Absicht hinausläuft, soviel auch im übrigen sich der brutale Franzose
vom idealistisch lehrhaften deutscheu Schriftsteller unterscheiden mag.
Dieser künstlerischen Absicht Jordans lag nun in dem neuen Roman die Be¬
fehdung der dogmatischen Religion fern und er streift sie auch nur im Vorüber¬
gehen. Aber als der wahre Gegensatz dieser seiner naturwissenschaftlichen Bil¬
dung erscheint die transzendentale deutsche Philosophie, wie sie sich seit Kant
durch Hegel und Schopenhauer entwickelt hat. Es ist nicht der Gegensatz von
(metaphysischen) Materialismus und Idealismus. Man darf nicht sagen, daß
Jordan Materialist sei, schon deswegen nicht, weil seine Anschauung jede Meta¬
physik, welcher Schule sie auch immer angehören mag, von vornherein und
grundsätzlich ablehnt. Jordan gesteht lieber das IZ-norg-mus zu, als daß er
den Versuch wagte, auf anderm Wege als dem der Beobachtung, auf spekula¬
tivem Wege Erkenntnis zu suchen. Dabei hat er eine grenzenlose Zuversicht
in die Möglichkeit der Erweiterung aller sinnlichen Erkenntnis, aller Erfahrung,
und dieser Stolz beseelt seine in der Form vornehme und in der Sache über¬
zeugende Polemik gegen die spekulative Metaphysik. Schopenhauer ist der letzte
der alten Philosophen, welche in Deutschland weite Verbreitung gefunden haben,
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