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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Die Mindlichkeit im Zivilprozeß.

Urteilsunterlage und der Gründlichkeit der Sachbearbeitung, erscheinen sonach
weder durch die Ergebnisse der Umfrage Wachs noch durch seine Aus¬
führungen widerlegt. Einen Punkt, den Bahr anknüpfend an die Vor¬
bereitung der Verhandlung von feiten des Gerichts hervorhebt, die Heranbildung
der Referendare, berührt Wach überhaupt nicht. Mit Recht fürchtet Bahr,
daß, wenn die schriftliche Arbeit in den Gerichten aufhöre, damit auch die prak¬
tische Schule für die Referendare zu Ende sei, und daß das bloße Entwerfen
von Urteilen nach gefaßten Beschlüssen die geistige Übung, welche in dem selb¬
ständigen Denken liege, nicht ersetzen könne. Thatsächlich ist es denn in Preußen
auch jetzt noch Vorschrift, daß die Kandidaten bei der für die große Staats¬
prüfung zu liefernden sogenannten praktischen Arbeit außer einem vollständigen
Urteilsentwurf -- ganz wie nach dem alten Verfahren -- eine Sachdarstelluug
und ein ausführliches Gutachten zu liefern haben. Freilich sollen viele Kan¬
didaten an dieser Aufgabe scheitern, was nicht zu verwundern ist, wenn sie
ihre Ausbildung bei Gerichten genossen haben, welche der von Wach so warm
empfohlenen Sitte huldigen: die Vorbereitung zum Termin nur im Aktenlesen und
höchstens in einem "kurz motivirten, hypothetischen Vorschlag" bestehen zu lassen.

Die weitern Mängel unsers heutigen Prozeßverfahrens, welche Wach
selbst anerkennt, erscheinen, wenn sie auch durchaus nicht unerheblich sind, jenen
beiden Hauptschaden gegenüber minder wichtig; immerhin ist es aber bezeichnend,
daß Wach trotzdem die Entwicklung unsers Zivilprozesses eine "gedeihliche"
nennt. Auf die Prozeßvcrschleppung infolge der Saumseligkeit bei Wechsel der
Schriftsätze soll hier nicht eingegangen werden -- Wach ruft gegen diesen
Mißstand selbst die Hilfe des Gesetzgebers an --, aber die Gestaltung der
Beweisaufnahme bedarf noch einiger Worte.

Was für die Verhandlung der Parteien gegen einander die Mündlichkeit
ist, das ist für die Beweisaufnahme deren Unmittelbarkeit. Beide Prinzipien
sind der Ausfluß desselben Gedankens: daß dem erkennenden Gericht der zur
Bildung seiner Entscheidung erforderliche Stoff womöglich ohne Dazwischen¬
treten eines Mittelgliedes vorgeführt werde. Man sollte daher erwarten, das
eine Prinzip werde nicht weniger heilig gehalten werden als das andre. Ja
wenn man das Verhältnis jener beiden Prinzipien gegeneinander abwägt, muß
man dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme noch eine höhere Bedeutung
beimessen, als dem der Mündlichkeit des Parteivorbringens. Der Eindruck des
letzteren wird, ob gehört oder gelesen, für deu nüchternen, klaren Verstand, also
den Richter, wie er sein soll, nicht wesentlich verschieden sein; für die Beur¬
teilung einer Zeugenaussage dagegen kann es allerdings einen wesentlichen
Unterschied machen, ob ich den Zeugen persönlich vor mir stehen sehe und
beobachten kann, wie er sich den Fragen des Gerichts und der Parteien gegen¬
über benimmt, oder ob ich nur das kahle, alle feineren Züge der Vernehmung
verwischende Protokoll darüber meiner Beweiswürdigung zu Gründe legen muß.


Die Mindlichkeit im Zivilprozeß.

Urteilsunterlage und der Gründlichkeit der Sachbearbeitung, erscheinen sonach
weder durch die Ergebnisse der Umfrage Wachs noch durch seine Aus¬
führungen widerlegt. Einen Punkt, den Bahr anknüpfend an die Vor¬
bereitung der Verhandlung von feiten des Gerichts hervorhebt, die Heranbildung
der Referendare, berührt Wach überhaupt nicht. Mit Recht fürchtet Bahr,
daß, wenn die schriftliche Arbeit in den Gerichten aufhöre, damit auch die prak¬
tische Schule für die Referendare zu Ende sei, und daß das bloße Entwerfen
von Urteilen nach gefaßten Beschlüssen die geistige Übung, welche in dem selb¬
ständigen Denken liege, nicht ersetzen könne. Thatsächlich ist es denn in Preußen
auch jetzt noch Vorschrift, daß die Kandidaten bei der für die große Staats¬
prüfung zu liefernden sogenannten praktischen Arbeit außer einem vollständigen
Urteilsentwurf — ganz wie nach dem alten Verfahren — eine Sachdarstelluug
und ein ausführliches Gutachten zu liefern haben. Freilich sollen viele Kan¬
didaten an dieser Aufgabe scheitern, was nicht zu verwundern ist, wenn sie
ihre Ausbildung bei Gerichten genossen haben, welche der von Wach so warm
empfohlenen Sitte huldigen: die Vorbereitung zum Termin nur im Aktenlesen und
höchstens in einem „kurz motivirten, hypothetischen Vorschlag" bestehen zu lassen.

Die weitern Mängel unsers heutigen Prozeßverfahrens, welche Wach
selbst anerkennt, erscheinen, wenn sie auch durchaus nicht unerheblich sind, jenen
beiden Hauptschaden gegenüber minder wichtig; immerhin ist es aber bezeichnend,
daß Wach trotzdem die Entwicklung unsers Zivilprozesses eine „gedeihliche"
nennt. Auf die Prozeßvcrschleppung infolge der Saumseligkeit bei Wechsel der
Schriftsätze soll hier nicht eingegangen werden — Wach ruft gegen diesen
Mißstand selbst die Hilfe des Gesetzgebers an —, aber die Gestaltung der
Beweisaufnahme bedarf noch einiger Worte.

Was für die Verhandlung der Parteien gegen einander die Mündlichkeit
ist, das ist für die Beweisaufnahme deren Unmittelbarkeit. Beide Prinzipien
sind der Ausfluß desselben Gedankens: daß dem erkennenden Gericht der zur
Bildung seiner Entscheidung erforderliche Stoff womöglich ohne Dazwischen¬
treten eines Mittelgliedes vorgeführt werde. Man sollte daher erwarten, das
eine Prinzip werde nicht weniger heilig gehalten werden als das andre. Ja
wenn man das Verhältnis jener beiden Prinzipien gegeneinander abwägt, muß
man dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme noch eine höhere Bedeutung
beimessen, als dem der Mündlichkeit des Parteivorbringens. Der Eindruck des
letzteren wird, ob gehört oder gelesen, für deu nüchternen, klaren Verstand, also
den Richter, wie er sein soll, nicht wesentlich verschieden sein; für die Beur¬
teilung einer Zeugenaussage dagegen kann es allerdings einen wesentlichen
Unterschied machen, ob ich den Zeugen persönlich vor mir stehen sehe und
beobachten kann, wie er sich den Fragen des Gerichts und der Parteien gegen¬
über benimmt, oder ob ich nur das kahle, alle feineren Züge der Vernehmung
verwischende Protokoll darüber meiner Beweiswürdigung zu Gründe legen muß.


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[0018] Die Mindlichkeit im Zivilprozeß. Urteilsunterlage und der Gründlichkeit der Sachbearbeitung, erscheinen sonach weder durch die Ergebnisse der Umfrage Wachs noch durch seine Aus¬ führungen widerlegt. Einen Punkt, den Bahr anknüpfend an die Vor¬ bereitung der Verhandlung von feiten des Gerichts hervorhebt, die Heranbildung der Referendare, berührt Wach überhaupt nicht. Mit Recht fürchtet Bahr, daß, wenn die schriftliche Arbeit in den Gerichten aufhöre, damit auch die prak¬ tische Schule für die Referendare zu Ende sei, und daß das bloße Entwerfen von Urteilen nach gefaßten Beschlüssen die geistige Übung, welche in dem selb¬ ständigen Denken liege, nicht ersetzen könne. Thatsächlich ist es denn in Preußen auch jetzt noch Vorschrift, daß die Kandidaten bei der für die große Staats¬ prüfung zu liefernden sogenannten praktischen Arbeit außer einem vollständigen Urteilsentwurf — ganz wie nach dem alten Verfahren — eine Sachdarstelluug und ein ausführliches Gutachten zu liefern haben. Freilich sollen viele Kan¬ didaten an dieser Aufgabe scheitern, was nicht zu verwundern ist, wenn sie ihre Ausbildung bei Gerichten genossen haben, welche der von Wach so warm empfohlenen Sitte huldigen: die Vorbereitung zum Termin nur im Aktenlesen und höchstens in einem „kurz motivirten, hypothetischen Vorschlag" bestehen zu lassen. Die weitern Mängel unsers heutigen Prozeßverfahrens, welche Wach selbst anerkennt, erscheinen, wenn sie auch durchaus nicht unerheblich sind, jenen beiden Hauptschaden gegenüber minder wichtig; immerhin ist es aber bezeichnend, daß Wach trotzdem die Entwicklung unsers Zivilprozesses eine „gedeihliche" nennt. Auf die Prozeßvcrschleppung infolge der Saumseligkeit bei Wechsel der Schriftsätze soll hier nicht eingegangen werden — Wach ruft gegen diesen Mißstand selbst die Hilfe des Gesetzgebers an —, aber die Gestaltung der Beweisaufnahme bedarf noch einiger Worte. Was für die Verhandlung der Parteien gegen einander die Mündlichkeit ist, das ist für die Beweisaufnahme deren Unmittelbarkeit. Beide Prinzipien sind der Ausfluß desselben Gedankens: daß dem erkennenden Gericht der zur Bildung seiner Entscheidung erforderliche Stoff womöglich ohne Dazwischen¬ treten eines Mittelgliedes vorgeführt werde. Man sollte daher erwarten, das eine Prinzip werde nicht weniger heilig gehalten werden als das andre. Ja wenn man das Verhältnis jener beiden Prinzipien gegeneinander abwägt, muß man dem der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme noch eine höhere Bedeutung beimessen, als dem der Mündlichkeit des Parteivorbringens. Der Eindruck des letzteren wird, ob gehört oder gelesen, für deu nüchternen, klaren Verstand, also den Richter, wie er sein soll, nicht wesentlich verschieden sein; für die Beur¬ teilung einer Zeugenaussage dagegen kann es allerdings einen wesentlichen Unterschied machen, ob ich den Zeugen persönlich vor mir stehen sehe und beobachten kann, wie er sich den Fragen des Gerichts und der Parteien gegen¬ über benimmt, oder ob ich nur das kahle, alle feineren Züge der Vernehmung verwischende Protokoll darüber meiner Beweiswürdigung zu Gründe legen muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/18>, abgerufen am 21.06.2024.