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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

gehalten, etwas davon zu erfahren, ans Gehorsam, ans anerzogener Scheu.
Jetzt reizte es ihn unwiderstehlich, dies Neue, Fremdartige kennen zu lernen
und -- sich den Eiferern in Israel anzuschließen. David Beronski hatte einen
ungewöhnlichen Geist und seufzte unter dem harten Joche der engen Grenzen,
welche jüdische Vorschrift und Vorsicht seinem Streben hier in der kleinen, von
einigen Fanatikern beherrschten Judenstadt zogen. Schon erschien ihm das
kleine, schwarze Buch wie ein Bote aus jener freiern, geistig regern Welt, nach
der er sich stets gesehnt hatte, obwohl seine Eltern wie die Gemeinde diese
Sehnsucht durch die frühe Heirat für immer unterdrückt, erstorben wähnten.

Er hatte das Buch noch immer umiufgeschlagen in der Hand, da flog ein
Vogel dicht neben ihm auf. Erschreckt sah er sich um.

An der andern Seite der Hecke ging jemand vorüber. Es war Jeschka.
Sie hielt eine Ziege bei den Hörnern fest, und er glaubte, sie führe das Tier
an den Teich. Doch sie hatte David gesehen, und ihre glühende, schwärmerische
Dankbarkeit für seinen schon so oft empfundenen Schutz hatte sie ihm nachge¬
trieben, als er an ihrer Hütte vorüber gegangen war. Hatte ihr doch Rüben
alles erzählt, und David erschien ihr wie ein Gott, der sie mit seinem er¬
lösenden Worte in ein schöneres Dasein emporheben werde. Als sie aber in
seine Nähe kam, entfiel ihr der Mut, ihn anzureden, und sie beobachtete ihn
nur aus der Ferne, bis das ungeduldige Tier sie an den Teich zog und so in
seine Nähe brachte.

Ihr Anblick rief David den Grund seines Hierseins ins Gedächtnis zurück:
er wollte sich ja auf Rubens Unterricht vorbereiten. Er war nun fest ent¬
schlossen, es zu thun, es mußte recht sein.

Er schlug das Buch auf, und seine Augen fielen auf die Worte: "Was
wollen wir hiezu sagen? sollen wir denn in der Sünde beharren, auf daß die
Gnade desto mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde
wollen leben, der wir abgestorben sind?"

Am Rande stand mit Bleistift geschrieben: "Nachdem wir sie erkannt haben."

Davids Kenntnis der deutschen Sprache war noch hinreichend, um an¬
standslos lesen zu können. Ein seltsames, fremdes Gefühl beschlich ihn. Das
klang so ganz anders wie seine Bücher; er ahnte, daß sich eine Fülle von
Gedanken in diesen Worten barg, deren er noch nicht habhaft werden konnte.
Er blickte wieder in das Buch. "Denn nun ihr frei worden seid von der Sünde,
seid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit."

Er sah auf. Ein Knecht der Gerechtigkeit -- ihr also dienstbar! Er be¬
grub seinen Kopf zwischen seine Hände, und die Welt versank um ihn, sein Geist
verlor sich in Fragen, die ihm auf seinem bisherigen Lebensgange noch nicht
entgegengetreten waren. Ein Knecht gehorcht nicht mehr freiwillig, er muß,
er hat keine Wahl. Keine äußere, eine innere Notwendigkeit, ein Zwang ohne
Widerstreben sollte also den Menschen zur Gerechtigkeit treiben. In Davids


David Beronski.

gehalten, etwas davon zu erfahren, ans Gehorsam, ans anerzogener Scheu.
Jetzt reizte es ihn unwiderstehlich, dies Neue, Fremdartige kennen zu lernen
und — sich den Eiferern in Israel anzuschließen. David Beronski hatte einen
ungewöhnlichen Geist und seufzte unter dem harten Joche der engen Grenzen,
welche jüdische Vorschrift und Vorsicht seinem Streben hier in der kleinen, von
einigen Fanatikern beherrschten Judenstadt zogen. Schon erschien ihm das
kleine, schwarze Buch wie ein Bote aus jener freiern, geistig regern Welt, nach
der er sich stets gesehnt hatte, obwohl seine Eltern wie die Gemeinde diese
Sehnsucht durch die frühe Heirat für immer unterdrückt, erstorben wähnten.

Er hatte das Buch noch immer umiufgeschlagen in der Hand, da flog ein
Vogel dicht neben ihm auf. Erschreckt sah er sich um.

An der andern Seite der Hecke ging jemand vorüber. Es war Jeschka.
Sie hielt eine Ziege bei den Hörnern fest, und er glaubte, sie führe das Tier
an den Teich. Doch sie hatte David gesehen, und ihre glühende, schwärmerische
Dankbarkeit für seinen schon so oft empfundenen Schutz hatte sie ihm nachge¬
trieben, als er an ihrer Hütte vorüber gegangen war. Hatte ihr doch Rüben
alles erzählt, und David erschien ihr wie ein Gott, der sie mit seinem er¬
lösenden Worte in ein schöneres Dasein emporheben werde. Als sie aber in
seine Nähe kam, entfiel ihr der Mut, ihn anzureden, und sie beobachtete ihn
nur aus der Ferne, bis das ungeduldige Tier sie an den Teich zog und so in
seine Nähe brachte.

Ihr Anblick rief David den Grund seines Hierseins ins Gedächtnis zurück:
er wollte sich ja auf Rubens Unterricht vorbereiten. Er war nun fest ent¬
schlossen, es zu thun, es mußte recht sein.

Er schlug das Buch auf, und seine Augen fielen auf die Worte: „Was
wollen wir hiezu sagen? sollen wir denn in der Sünde beharren, auf daß die
Gnade desto mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde
wollen leben, der wir abgestorben sind?"

Am Rande stand mit Bleistift geschrieben: „Nachdem wir sie erkannt haben."

Davids Kenntnis der deutschen Sprache war noch hinreichend, um an¬
standslos lesen zu können. Ein seltsames, fremdes Gefühl beschlich ihn. Das
klang so ganz anders wie seine Bücher; er ahnte, daß sich eine Fülle von
Gedanken in diesen Worten barg, deren er noch nicht habhaft werden konnte.
Er blickte wieder in das Buch. „Denn nun ihr frei worden seid von der Sünde,
seid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit."

Er sah auf. Ein Knecht der Gerechtigkeit — ihr also dienstbar! Er be¬
grub seinen Kopf zwischen seine Hände, und die Welt versank um ihn, sein Geist
verlor sich in Fragen, die ihm auf seinem bisherigen Lebensgange noch nicht
entgegengetreten waren. Ein Knecht gehorcht nicht mehr freiwillig, er muß,
er hat keine Wahl. Keine äußere, eine innere Notwendigkeit, ein Zwang ohne
Widerstreben sollte also den Menschen zur Gerechtigkeit treiben. In Davids


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[0155] David Beronski. gehalten, etwas davon zu erfahren, ans Gehorsam, ans anerzogener Scheu. Jetzt reizte es ihn unwiderstehlich, dies Neue, Fremdartige kennen zu lernen und — sich den Eiferern in Israel anzuschließen. David Beronski hatte einen ungewöhnlichen Geist und seufzte unter dem harten Joche der engen Grenzen, welche jüdische Vorschrift und Vorsicht seinem Streben hier in der kleinen, von einigen Fanatikern beherrschten Judenstadt zogen. Schon erschien ihm das kleine, schwarze Buch wie ein Bote aus jener freiern, geistig regern Welt, nach der er sich stets gesehnt hatte, obwohl seine Eltern wie die Gemeinde diese Sehnsucht durch die frühe Heirat für immer unterdrückt, erstorben wähnten. Er hatte das Buch noch immer umiufgeschlagen in der Hand, da flog ein Vogel dicht neben ihm auf. Erschreckt sah er sich um. An der andern Seite der Hecke ging jemand vorüber. Es war Jeschka. Sie hielt eine Ziege bei den Hörnern fest, und er glaubte, sie führe das Tier an den Teich. Doch sie hatte David gesehen, und ihre glühende, schwärmerische Dankbarkeit für seinen schon so oft empfundenen Schutz hatte sie ihm nachge¬ trieben, als er an ihrer Hütte vorüber gegangen war. Hatte ihr doch Rüben alles erzählt, und David erschien ihr wie ein Gott, der sie mit seinem er¬ lösenden Worte in ein schöneres Dasein emporheben werde. Als sie aber in seine Nähe kam, entfiel ihr der Mut, ihn anzureden, und sie beobachtete ihn nur aus der Ferne, bis das ungeduldige Tier sie an den Teich zog und so in seine Nähe brachte. Ihr Anblick rief David den Grund seines Hierseins ins Gedächtnis zurück: er wollte sich ja auf Rubens Unterricht vorbereiten. Er war nun fest ent¬ schlossen, es zu thun, es mußte recht sein. Er schlug das Buch auf, und seine Augen fielen auf die Worte: „Was wollen wir hiezu sagen? sollen wir denn in der Sünde beharren, auf daß die Gnade desto mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde wollen leben, der wir abgestorben sind?" Am Rande stand mit Bleistift geschrieben: „Nachdem wir sie erkannt haben." Davids Kenntnis der deutschen Sprache war noch hinreichend, um an¬ standslos lesen zu können. Ein seltsames, fremdes Gefühl beschlich ihn. Das klang so ganz anders wie seine Bücher; er ahnte, daß sich eine Fülle von Gedanken in diesen Worten barg, deren er noch nicht habhaft werden konnte. Er blickte wieder in das Buch. „Denn nun ihr frei worden seid von der Sünde, seid ihr Knechte worden der Gerechtigkeit." Er sah auf. Ein Knecht der Gerechtigkeit — ihr also dienstbar! Er be¬ grub seinen Kopf zwischen seine Hände, und die Welt versank um ihn, sein Geist verlor sich in Fragen, die ihm auf seinem bisherigen Lebensgange noch nicht entgegengetreten waren. Ein Knecht gehorcht nicht mehr freiwillig, er muß, er hat keine Wahl. Keine äußere, eine innere Notwendigkeit, ein Zwang ohne Widerstreben sollte also den Menschen zur Gerechtigkeit treiben. In Davids

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/155>, abgerufen am 20.06.2024.