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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Ronrad Ferdinand Meyers Versuchung des Pescara.

die Zeit der möglichen Befreiung Italiens so unerbittlich vorüber ist wie seine
eigne Lebenszeit, und kann seinem Vaterlande mir wünschen, von allen Träumen
Abschied zu nehmen, wie er selbst Abschied nehmen muß.

Ohne Zweifel, hier ist ein tief poetisches, wenn auch ernstes, düsteres Motiv,
eine Fülle des menschlich Ergreifenden in einer vielgliedrigen und doch einfachen
Handlung, zu der sich der ganze Reiz einer lebendigen Charakteristik bedeutender
und marin'chfaltiger Gestalten gesellt. Man sieht sie wandeln, hört sie sprechen
und atmen, diese Pescara und Bourbon, Leyva und Moneada, Morone und
Guicciardin, die schöne Vittoria Colonna und die kleinern hinzuerfundenen Ge¬
stalten. Der Dichter zieht, ohne den Verlauf und den Ton seiner dramatisch
ausgeführten Erzählung irgendwo zu unterbrechen oder zu durchbrechen, die
hundert Nebendinge in die Vorgänge herein, durch welche wir die besondre
Kultur, die Denk- und Redeweise der Zeit empfinden, uns der tausend Fäden,
welche die Episode mit der großen Welthandlung verbinden, bewußt werden.
Wenn der kombinirende, rechnende Verstand an diesem Kunstwerke einen starken
Anteil hat, so ist das kein oder doch kaum ein Vorwurf -- die Besonderheit
des Stoffes erheischt eine gewisse Schärfe und feine Zuspitzung der Einzel¬
heiten. Die Gesamtwirkung bleibt doch die poetische: mit leisem Grauen und
wachsender Spannung, nicht ohne Rührung folgen wir der allmählichen Ent¬
hüllung des Geheimnisses, das der versuchte Feldherr mit sich trägt und das
uns mit seiner Haltung so wunderbar aussöhnt.

Daß eine Erzählung wie diese ohne ein hohes Maß stilistischer Kunst über¬
haupt nicht durchführbar wäre, daß sie in ihrer knappen und edeln Haltung der
Eigenart des Stoffes entspricht, bedarf keiner besondern Hervorhebung. Gegen¬
über der Anerkennung, welche die Phantasie, die sichere Gestalteuzeichnnng, die
Farbenfülle des Novellisten zu beanspruchen haben, ist das Lob seines klaren,
geistig belebten Vortrages nur klein. Wohl aber will es sich ziemen, neben aller
Anerkennung auch ein schwerwiegendes Bedenken nicht zu verschweigen. Konrad
Ferdinand Meyer geht zwar der Klippe des historischen Romanschriftstellers,
den trocknen Berichten über Thatsachen und Verhältnisse, den prosaischen Ele¬
menten der Zeit- und Sittenschilderung, sehr glücklich aus dem Wege. In der
"Versuchung des Pescara" ist alles nicht nur verständlich, sondern unmittelbar,
es werden keine Notbrücken geschlagen, und die Dinge entwickeln sich aus den
gegebenen Voraussetzungen mit überzeugender Kraft. Aber diese Voraussetzungen
sind eine genaue Kenntnis der italienischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten
des fünfzehnten und den ersten des sechzehnten Jahrhunderts, ein gewisses Ver¬
trautsein mit der besondern Bildung der Hochrenaissance, eine Fähigkeit, die bloße
Andeutung aus der eignen Phantasie und der eignen Erinnerung von tausend
Beziehungen zu ergänzen. Wem dies alles fehlt, der wird schwerlich die Ent¬
wicklung der Erzählung mit vollem Anteil begleiten, das poetische Hauptmotiv
derselben in seiner ganzen Tiefe und Eigentümlichkeit mitempfinden können.


Ronrad Ferdinand Meyers Versuchung des Pescara.

die Zeit der möglichen Befreiung Italiens so unerbittlich vorüber ist wie seine
eigne Lebenszeit, und kann seinem Vaterlande mir wünschen, von allen Träumen
Abschied zu nehmen, wie er selbst Abschied nehmen muß.

Ohne Zweifel, hier ist ein tief poetisches, wenn auch ernstes, düsteres Motiv,
eine Fülle des menschlich Ergreifenden in einer vielgliedrigen und doch einfachen
Handlung, zu der sich der ganze Reiz einer lebendigen Charakteristik bedeutender
und marin'chfaltiger Gestalten gesellt. Man sieht sie wandeln, hört sie sprechen
und atmen, diese Pescara und Bourbon, Leyva und Moneada, Morone und
Guicciardin, die schöne Vittoria Colonna und die kleinern hinzuerfundenen Ge¬
stalten. Der Dichter zieht, ohne den Verlauf und den Ton seiner dramatisch
ausgeführten Erzählung irgendwo zu unterbrechen oder zu durchbrechen, die
hundert Nebendinge in die Vorgänge herein, durch welche wir die besondre
Kultur, die Denk- und Redeweise der Zeit empfinden, uns der tausend Fäden,
welche die Episode mit der großen Welthandlung verbinden, bewußt werden.
Wenn der kombinirende, rechnende Verstand an diesem Kunstwerke einen starken
Anteil hat, so ist das kein oder doch kaum ein Vorwurf — die Besonderheit
des Stoffes erheischt eine gewisse Schärfe und feine Zuspitzung der Einzel¬
heiten. Die Gesamtwirkung bleibt doch die poetische: mit leisem Grauen und
wachsender Spannung, nicht ohne Rührung folgen wir der allmählichen Ent¬
hüllung des Geheimnisses, das der versuchte Feldherr mit sich trägt und das
uns mit seiner Haltung so wunderbar aussöhnt.

Daß eine Erzählung wie diese ohne ein hohes Maß stilistischer Kunst über¬
haupt nicht durchführbar wäre, daß sie in ihrer knappen und edeln Haltung der
Eigenart des Stoffes entspricht, bedarf keiner besondern Hervorhebung. Gegen¬
über der Anerkennung, welche die Phantasie, die sichere Gestalteuzeichnnng, die
Farbenfülle des Novellisten zu beanspruchen haben, ist das Lob seines klaren,
geistig belebten Vortrages nur klein. Wohl aber will es sich ziemen, neben aller
Anerkennung auch ein schwerwiegendes Bedenken nicht zu verschweigen. Konrad
Ferdinand Meyer geht zwar der Klippe des historischen Romanschriftstellers,
den trocknen Berichten über Thatsachen und Verhältnisse, den prosaischen Ele¬
menten der Zeit- und Sittenschilderung, sehr glücklich aus dem Wege. In der
„Versuchung des Pescara" ist alles nicht nur verständlich, sondern unmittelbar,
es werden keine Notbrücken geschlagen, und die Dinge entwickeln sich aus den
gegebenen Voraussetzungen mit überzeugender Kraft. Aber diese Voraussetzungen
sind eine genaue Kenntnis der italienischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten
des fünfzehnten und den ersten des sechzehnten Jahrhunderts, ein gewisses Ver¬
trautsein mit der besondern Bildung der Hochrenaissance, eine Fähigkeit, die bloße
Andeutung aus der eignen Phantasie und der eignen Erinnerung von tausend
Beziehungen zu ergänzen. Wem dies alles fehlt, der wird schwerlich die Ent¬
wicklung der Erzählung mit vollem Anteil begleiten, das poetische Hauptmotiv
derselben in seiner ganzen Tiefe und Eigentümlichkeit mitempfinden können.


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[0148] Ronrad Ferdinand Meyers Versuchung des Pescara. die Zeit der möglichen Befreiung Italiens so unerbittlich vorüber ist wie seine eigne Lebenszeit, und kann seinem Vaterlande mir wünschen, von allen Träumen Abschied zu nehmen, wie er selbst Abschied nehmen muß. Ohne Zweifel, hier ist ein tief poetisches, wenn auch ernstes, düsteres Motiv, eine Fülle des menschlich Ergreifenden in einer vielgliedrigen und doch einfachen Handlung, zu der sich der ganze Reiz einer lebendigen Charakteristik bedeutender und marin'chfaltiger Gestalten gesellt. Man sieht sie wandeln, hört sie sprechen und atmen, diese Pescara und Bourbon, Leyva und Moneada, Morone und Guicciardin, die schöne Vittoria Colonna und die kleinern hinzuerfundenen Ge¬ stalten. Der Dichter zieht, ohne den Verlauf und den Ton seiner dramatisch ausgeführten Erzählung irgendwo zu unterbrechen oder zu durchbrechen, die hundert Nebendinge in die Vorgänge herein, durch welche wir die besondre Kultur, die Denk- und Redeweise der Zeit empfinden, uns der tausend Fäden, welche die Episode mit der großen Welthandlung verbinden, bewußt werden. Wenn der kombinirende, rechnende Verstand an diesem Kunstwerke einen starken Anteil hat, so ist das kein oder doch kaum ein Vorwurf — die Besonderheit des Stoffes erheischt eine gewisse Schärfe und feine Zuspitzung der Einzel¬ heiten. Die Gesamtwirkung bleibt doch die poetische: mit leisem Grauen und wachsender Spannung, nicht ohne Rührung folgen wir der allmählichen Ent¬ hüllung des Geheimnisses, das der versuchte Feldherr mit sich trägt und das uns mit seiner Haltung so wunderbar aussöhnt. Daß eine Erzählung wie diese ohne ein hohes Maß stilistischer Kunst über¬ haupt nicht durchführbar wäre, daß sie in ihrer knappen und edeln Haltung der Eigenart des Stoffes entspricht, bedarf keiner besondern Hervorhebung. Gegen¬ über der Anerkennung, welche die Phantasie, die sichere Gestalteuzeichnnng, die Farbenfülle des Novellisten zu beanspruchen haben, ist das Lob seines klaren, geistig belebten Vortrages nur klein. Wohl aber will es sich ziemen, neben aller Anerkennung auch ein schwerwiegendes Bedenken nicht zu verschweigen. Konrad Ferdinand Meyer geht zwar der Klippe des historischen Romanschriftstellers, den trocknen Berichten über Thatsachen und Verhältnisse, den prosaischen Ele¬ menten der Zeit- und Sittenschilderung, sehr glücklich aus dem Wege. In der „Versuchung des Pescara" ist alles nicht nur verständlich, sondern unmittelbar, es werden keine Notbrücken geschlagen, und die Dinge entwickeln sich aus den gegebenen Voraussetzungen mit überzeugender Kraft. Aber diese Voraussetzungen sind eine genaue Kenntnis der italienischen Geschichte in den letzten Jahrzehnten des fünfzehnten und den ersten des sechzehnten Jahrhunderts, ein gewisses Ver¬ trautsein mit der besondern Bildung der Hochrenaissance, eine Fähigkeit, die bloße Andeutung aus der eignen Phantasie und der eignen Erinnerung von tausend Beziehungen zu ergänzen. Wem dies alles fehlt, der wird schwerlich die Ent¬ wicklung der Erzählung mit vollem Anteil begleiten, das poetische Hauptmotiv derselben in seiner ganzen Tiefe und Eigentümlichkeit mitempfinden können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/148>, abgerufen am 28.09.2024.