Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Mündlichkeit im Iivilprozeß.

Zivilprozeßordnung, aus welchem, wie der Baum aus seinem Keime, die gesamte
Gestaltung des Verfahrens entwickelt war, der Gedanke, von welchem alle ein¬
zelnen Bestimmungen des Gesetzes durchdrungen und beherrscht sind. Und ent¬
hielt doch das Ergebnis der Ausführungen eine schonungslose Verurteilung des
bestehenden, aus jenem Prinzip hervorgegangenen Zustandes, an dessen Bei¬
behaltung sich demgemäß ernste Besorgnisse fiir die Zukunft knüpfen mußten.
Stimmen des Beifalls wurden verhältnismäßig wenig laut, während sich Gegner
von allen Seiten erhoben. Hätte diese Erscheinung an der Berechtigung der
Vorwürfe Vährs Zweifel erwecken können, so ließ sich dagegen die Heftigkeit,
ja teilweise Maßlosigkeit der Angriffe auf ihn kaum anders als dadurch erklären,
daß er in Wahrheit einen wunden Punkt unsers Rechtslebens berührt und
bloßgelegt hatte. Während die übrigen Gegner sich im wesentlichen darauf be¬
schränkten, die Ergebnisse der Bcchrschen Erörterung als unrichtig anzufechten,
versuchte einer von ihnen, Professor Wach in Leipzig, nachdem er zunächst
ebenfalls in einer Abhandlung bestritten hatte, daß die Angriffe Bührs begründet
seien, diesen auch noch dadurch den Boden zu entziehen, daß er der Erhebung,
welche Bähr seiner Besprechung zu Gnade gelegt hatte, eine andere, in einem
weit umfassenderen Maßstabe entgegensetzte, indem er sämtlichen deutschen
Landgerichten Fragebogen mit insgesamt 56 Fragen zugehen ließ, deren Inhalt sich
auf die hauptsächlichsten Punkte bezog, welche durch den Grundsatz der Mündlich¬
keit in dem Verfahren vor den Kollegialgcrichten erster Instanz betroffen werden.
Das Ergebnis dieser im vorigen Jahre veranstalteten Untersuchung hat Wach un¬
längst in einem Ergänzungshefte zum neunten Bande der Zeitschrift für deutschen
Zivilprozeß veröffentlicht. Er kommt auf Grund derselben zu dem Schlüsse, daß
die von Bähr namentlich gegen die Sicherheit der Urteilsgrundlage geäußerten
Bedenken grundlos seien und zu Besorgnissen für die Zukunft t'eine Veranlassung
gäben, daß vielmehr "unser Prozeßverfahren -- aller Zwiespältigkeit und aller
Mängel ungeachtet -- sich auf dem Wege gedeihlicher Entwicklung befinde."

Entgegen dieser günstigen Auffassung Wachs hat auch Bähr uoch einmal
das Wort ergriffen und gegenüber oder richtiger auf Grund des von Wach
gesammelten und veröffentlichten Thatsachenmaterials seine abweichende Ansicht
von neuem begründet in eiuer soeben erschienenen kleinen Schrift: "Die Proze߬
enquete des Prof. Dr. Wach" (Kassel, Karl Gosewisch).

Man darf annehmen, daß damit die vor zwei Jahren von Bähr ein¬
geleitete Fehde über den Wert des Mündlichkeitsprinzips der Zivilprozeßordnung
auf literarischem Gebiete zunächst ihren Abschluß gefunden hat, und so ist es
wohl berechtigt, das Ergebnis der beiderseitigen Ermittlungen und. Aus¬
führungen, gestützt auf die letzten Veröffentlichungen Wachs und Bahrs, unsern
Lesern in kurzen Zügen zu vergegenwärtigen..

Den Begriff der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit eines Prozeßverfahrens
kann man mit Rücksicht auf die vorliegende Streitfrage je nach dem dahin be-


Die Mündlichkeit im Iivilprozeß.

Zivilprozeßordnung, aus welchem, wie der Baum aus seinem Keime, die gesamte
Gestaltung des Verfahrens entwickelt war, der Gedanke, von welchem alle ein¬
zelnen Bestimmungen des Gesetzes durchdrungen und beherrscht sind. Und ent¬
hielt doch das Ergebnis der Ausführungen eine schonungslose Verurteilung des
bestehenden, aus jenem Prinzip hervorgegangenen Zustandes, an dessen Bei¬
behaltung sich demgemäß ernste Besorgnisse fiir die Zukunft knüpfen mußten.
Stimmen des Beifalls wurden verhältnismäßig wenig laut, während sich Gegner
von allen Seiten erhoben. Hätte diese Erscheinung an der Berechtigung der
Vorwürfe Vährs Zweifel erwecken können, so ließ sich dagegen die Heftigkeit,
ja teilweise Maßlosigkeit der Angriffe auf ihn kaum anders als dadurch erklären,
daß er in Wahrheit einen wunden Punkt unsers Rechtslebens berührt und
bloßgelegt hatte. Während die übrigen Gegner sich im wesentlichen darauf be¬
schränkten, die Ergebnisse der Bcchrschen Erörterung als unrichtig anzufechten,
versuchte einer von ihnen, Professor Wach in Leipzig, nachdem er zunächst
ebenfalls in einer Abhandlung bestritten hatte, daß die Angriffe Bührs begründet
seien, diesen auch noch dadurch den Boden zu entziehen, daß er der Erhebung,
welche Bähr seiner Besprechung zu Gnade gelegt hatte, eine andere, in einem
weit umfassenderen Maßstabe entgegensetzte, indem er sämtlichen deutschen
Landgerichten Fragebogen mit insgesamt 56 Fragen zugehen ließ, deren Inhalt sich
auf die hauptsächlichsten Punkte bezog, welche durch den Grundsatz der Mündlich¬
keit in dem Verfahren vor den Kollegialgcrichten erster Instanz betroffen werden.
Das Ergebnis dieser im vorigen Jahre veranstalteten Untersuchung hat Wach un¬
längst in einem Ergänzungshefte zum neunten Bande der Zeitschrift für deutschen
Zivilprozeß veröffentlicht. Er kommt auf Grund derselben zu dem Schlüsse, daß
die von Bähr namentlich gegen die Sicherheit der Urteilsgrundlage geäußerten
Bedenken grundlos seien und zu Besorgnissen für die Zukunft t'eine Veranlassung
gäben, daß vielmehr „unser Prozeßverfahren — aller Zwiespältigkeit und aller
Mängel ungeachtet — sich auf dem Wege gedeihlicher Entwicklung befinde."

Entgegen dieser günstigen Auffassung Wachs hat auch Bähr uoch einmal
das Wort ergriffen und gegenüber oder richtiger auf Grund des von Wach
gesammelten und veröffentlichten Thatsachenmaterials seine abweichende Ansicht
von neuem begründet in eiuer soeben erschienenen kleinen Schrift: „Die Proze߬
enquete des Prof. Dr. Wach" (Kassel, Karl Gosewisch).

Man darf annehmen, daß damit die vor zwei Jahren von Bähr ein¬
geleitete Fehde über den Wert des Mündlichkeitsprinzips der Zivilprozeßordnung
auf literarischem Gebiete zunächst ihren Abschluß gefunden hat, und so ist es
wohl berechtigt, das Ergebnis der beiderseitigen Ermittlungen und. Aus¬
führungen, gestützt auf die letzten Veröffentlichungen Wachs und Bahrs, unsern
Lesern in kurzen Zügen zu vergegenwärtigen..

Den Begriff der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit eines Prozeßverfahrens
kann man mit Rücksicht auf die vorliegende Streitfrage je nach dem dahin be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0010" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/202109"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Mündlichkeit im Iivilprozeß.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_4" prev="#ID_3"> Zivilprozeßordnung, aus welchem, wie der Baum aus seinem Keime, die gesamte<lb/>
Gestaltung des Verfahrens entwickelt war, der Gedanke, von welchem alle ein¬<lb/>
zelnen Bestimmungen des Gesetzes durchdrungen und beherrscht sind. Und ent¬<lb/>
hielt doch das Ergebnis der Ausführungen eine schonungslose Verurteilung des<lb/>
bestehenden, aus jenem Prinzip hervorgegangenen Zustandes, an dessen Bei¬<lb/>
behaltung sich demgemäß ernste Besorgnisse fiir die Zukunft knüpfen mußten.<lb/>
Stimmen des Beifalls wurden verhältnismäßig wenig laut, während sich Gegner<lb/>
von allen Seiten erhoben. Hätte diese Erscheinung an der Berechtigung der<lb/>
Vorwürfe Vährs Zweifel erwecken können, so ließ sich dagegen die Heftigkeit,<lb/>
ja teilweise Maßlosigkeit der Angriffe auf ihn kaum anders als dadurch erklären,<lb/>
daß er in Wahrheit einen wunden Punkt unsers Rechtslebens berührt und<lb/>
bloßgelegt hatte. Während die übrigen Gegner sich im wesentlichen darauf be¬<lb/>
schränkten, die Ergebnisse der Bcchrschen Erörterung als unrichtig anzufechten,<lb/>
versuchte einer von ihnen, Professor Wach in Leipzig, nachdem er zunächst<lb/>
ebenfalls in einer Abhandlung bestritten hatte, daß die Angriffe Bührs begründet<lb/>
seien, diesen auch noch dadurch den Boden zu entziehen, daß er der Erhebung,<lb/>
welche Bähr seiner Besprechung zu Gnade gelegt hatte, eine andere, in einem<lb/>
weit umfassenderen Maßstabe entgegensetzte, indem er sämtlichen deutschen<lb/>
Landgerichten Fragebogen mit insgesamt 56 Fragen zugehen ließ, deren Inhalt sich<lb/>
auf die hauptsächlichsten Punkte bezog, welche durch den Grundsatz der Mündlich¬<lb/>
keit in dem Verfahren vor den Kollegialgcrichten erster Instanz betroffen werden.<lb/>
Das Ergebnis dieser im vorigen Jahre veranstalteten Untersuchung hat Wach un¬<lb/>
längst in einem Ergänzungshefte zum neunten Bande der Zeitschrift für deutschen<lb/>
Zivilprozeß veröffentlicht. Er kommt auf Grund derselben zu dem Schlüsse, daß<lb/>
die von Bähr namentlich gegen die Sicherheit der Urteilsgrundlage geäußerten<lb/>
Bedenken grundlos seien und zu Besorgnissen für die Zukunft t'eine Veranlassung<lb/>
gäben, daß vielmehr &#x201E;unser Prozeßverfahren &#x2014; aller Zwiespältigkeit und aller<lb/>
Mängel ungeachtet &#x2014; sich auf dem Wege gedeihlicher Entwicklung befinde."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_5"> Entgegen dieser günstigen Auffassung Wachs hat auch Bähr uoch einmal<lb/>
das Wort ergriffen und gegenüber oder richtiger auf Grund des von Wach<lb/>
gesammelten und veröffentlichten Thatsachenmaterials seine abweichende Ansicht<lb/>
von neuem begründet in eiuer soeben erschienenen kleinen Schrift: &#x201E;Die Proze߬<lb/>
enquete des Prof. Dr. Wach" (Kassel, Karl Gosewisch).</p><lb/>
          <p xml:id="ID_6"> Man darf annehmen, daß damit die vor zwei Jahren von Bähr ein¬<lb/>
geleitete Fehde über den Wert des Mündlichkeitsprinzips der Zivilprozeßordnung<lb/>
auf literarischem Gebiete zunächst ihren Abschluß gefunden hat, und so ist es<lb/>
wohl berechtigt, das Ergebnis der beiderseitigen Ermittlungen und. Aus¬<lb/>
führungen, gestützt auf die letzten Veröffentlichungen Wachs und Bahrs, unsern<lb/>
Lesern in kurzen Zügen zu vergegenwärtigen..</p><lb/>
          <p xml:id="ID_7" next="#ID_8"> Den Begriff der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit eines Prozeßverfahrens<lb/>
kann man mit Rücksicht auf die vorliegende Streitfrage je nach dem dahin be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0010] Die Mündlichkeit im Iivilprozeß. Zivilprozeßordnung, aus welchem, wie der Baum aus seinem Keime, die gesamte Gestaltung des Verfahrens entwickelt war, der Gedanke, von welchem alle ein¬ zelnen Bestimmungen des Gesetzes durchdrungen und beherrscht sind. Und ent¬ hielt doch das Ergebnis der Ausführungen eine schonungslose Verurteilung des bestehenden, aus jenem Prinzip hervorgegangenen Zustandes, an dessen Bei¬ behaltung sich demgemäß ernste Besorgnisse fiir die Zukunft knüpfen mußten. Stimmen des Beifalls wurden verhältnismäßig wenig laut, während sich Gegner von allen Seiten erhoben. Hätte diese Erscheinung an der Berechtigung der Vorwürfe Vährs Zweifel erwecken können, so ließ sich dagegen die Heftigkeit, ja teilweise Maßlosigkeit der Angriffe auf ihn kaum anders als dadurch erklären, daß er in Wahrheit einen wunden Punkt unsers Rechtslebens berührt und bloßgelegt hatte. Während die übrigen Gegner sich im wesentlichen darauf be¬ schränkten, die Ergebnisse der Bcchrschen Erörterung als unrichtig anzufechten, versuchte einer von ihnen, Professor Wach in Leipzig, nachdem er zunächst ebenfalls in einer Abhandlung bestritten hatte, daß die Angriffe Bührs begründet seien, diesen auch noch dadurch den Boden zu entziehen, daß er der Erhebung, welche Bähr seiner Besprechung zu Gnade gelegt hatte, eine andere, in einem weit umfassenderen Maßstabe entgegensetzte, indem er sämtlichen deutschen Landgerichten Fragebogen mit insgesamt 56 Fragen zugehen ließ, deren Inhalt sich auf die hauptsächlichsten Punkte bezog, welche durch den Grundsatz der Mündlich¬ keit in dem Verfahren vor den Kollegialgcrichten erster Instanz betroffen werden. Das Ergebnis dieser im vorigen Jahre veranstalteten Untersuchung hat Wach un¬ längst in einem Ergänzungshefte zum neunten Bande der Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß veröffentlicht. Er kommt auf Grund derselben zu dem Schlüsse, daß die von Bähr namentlich gegen die Sicherheit der Urteilsgrundlage geäußerten Bedenken grundlos seien und zu Besorgnissen für die Zukunft t'eine Veranlassung gäben, daß vielmehr „unser Prozeßverfahren — aller Zwiespältigkeit und aller Mängel ungeachtet — sich auf dem Wege gedeihlicher Entwicklung befinde." Entgegen dieser günstigen Auffassung Wachs hat auch Bähr uoch einmal das Wort ergriffen und gegenüber oder richtiger auf Grund des von Wach gesammelten und veröffentlichten Thatsachenmaterials seine abweichende Ansicht von neuem begründet in eiuer soeben erschienenen kleinen Schrift: „Die Proze߬ enquete des Prof. Dr. Wach" (Kassel, Karl Gosewisch). Man darf annehmen, daß damit die vor zwei Jahren von Bähr ein¬ geleitete Fehde über den Wert des Mündlichkeitsprinzips der Zivilprozeßordnung auf literarischem Gebiete zunächst ihren Abschluß gefunden hat, und so ist es wohl berechtigt, das Ergebnis der beiderseitigen Ermittlungen und. Aus¬ führungen, gestützt auf die letzten Veröffentlichungen Wachs und Bahrs, unsern Lesern in kurzen Zügen zu vergegenwärtigen.. Den Begriff der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit eines Prozeßverfahrens kann man mit Rücksicht auf die vorliegende Streitfrage je nach dem dahin be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/10
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/10>, abgerufen am 21.06.2024.