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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

böhmischen Landmmin am besten verbreiten oder auf das flache Land übertragen
könne." Das Problem ist jedoch bis heute noch nicht gelöst, mit andern Worten:
Fabrikthätigkeit, Hausindustrie und Handel Böhmens befinden sich noch jetzt im
allgemeinen in deutschen Händen. Und nun sollen nach jenem Erlaß die sach¬
verständigen Beisitzer der Handelsgerichte ans den Reihen der Tschechen berufen
werden! Fürwahr, das Ding wäre sehr lächerlich, wenn es nicht eine so ernste
Rückseite hätte.

Um diesen Brief nicht zu, lang werden zu lassen, hebe ich für heute nur
noch einen Umstand aus dem Bereiche der Justiz hervor, um zu zeigen, wie
gründlich hier allenthalben das Deutschtum ausgejätet und das Tschechentum
gepflanzt wird. Aus "Ersparnisrücksichtcn" wurden 1384 die Listen des Ge¬
schwornengerichts in Böhmisch-Leipa so zusammengesetzt, daß ganze große Be¬
zirke, die entfernter lagen, dabei völlig unberücksichtigt blieben. Die Sache
hatte dort nicht viel zu bedeuten, da in Leipa nur Deutsche andre Deutsche
richten. Ganz anders steht es in doppelsprachigen Bezirken. Im Jahre 1884
zählte das Schwurgericht in Königsgrätz 328, das in Jitschin 340 Haupt¬
geschworne. Verglichen mit der Zusammensetzung derselben in den vorher¬
gegangenen Jahren zeigten die neuen Listen eine bedeutende Veränderung, indem
darin die vom Kreisgerichtssitze entlegneren deutschen Gerichtsbezirke ent¬
weder nur durch sehr wenige Geschworne oder garnicht vertreten waren. So
z. B. hatte Braunau im Jahre 1883 noch neunzehn, Grullas noch dreizehn,
Nokitnitz noch acht Geschworne gestellt, während der erstgenannte Bezirk jetzt
nur sechs, der zweite nur drei und der dritte ebenfalls nur so viele entsandte.
Bei dem Kreisgerichte Jitschin waren 1883 aus dem Bezirke Arrau dreiund¬
dreißig, jetzt zwei, aus Hohenelbe früher vierundfünfzig, jetzt auch nur zwei,
aus Trautenau vorher dreißig, jetzt drei, und die deutschen Bezirke Rochlitz,
Marscheudorf und Schatzlar waren in der Jahresliste von 1883 garnicht durch
Geschworne vertreten. Ein andrer Bericht fügt hinzu: "Aus dem Gerichts¬
bezirke Rokitnitz, in welchem nur eine gemischte Gemeinde, Rehberg, besteht,
wurde richtig ein Tscheche aus dieser letzteren, dann wurden zwei Tschechen aus
der Stadt Rokitnitz, aber kein einziger Deutscher unter sämtlichen drei Be¬
rufenen des Bezirks zu Geschwornen bestimmt. In dem Gerichtsbezirke Grullas,
wo es nur eine tschechische Gemeinde, Studeney, giebt, wurde ein Tscheche aus
dieser zum Geschwornen genommen. Aus den deutschen Gemeinden des Bezirks
Neustadt, der eine Bevölkerung von mehr als 6500 Seelen hat, wurde ebenso¬
wenig wie aus denen des Bezirks Pölitz ein Deutscher zum Geschwornenamte
berufen. Derartige Vernachlässigung ist sicherlich weder durch "Ersparungs-
rücksichten" noch durch Zufall zu erklären. Solche Zahlenverhältnisse sprechen
wohl deutlicher als manche Resolution im böhmischen Landtage und öster¬
reichischen Abgeordnetenhause dafür, daß eine Teilung der gerichtlichen und
administrativen Bezirke Böhmens nach den beiden Sprachen der Bevölkerung


Deutsch-böhmische Briefe.

böhmischen Landmmin am besten verbreiten oder auf das flache Land übertragen
könne." Das Problem ist jedoch bis heute noch nicht gelöst, mit andern Worten:
Fabrikthätigkeit, Hausindustrie und Handel Böhmens befinden sich noch jetzt im
allgemeinen in deutschen Händen. Und nun sollen nach jenem Erlaß die sach¬
verständigen Beisitzer der Handelsgerichte ans den Reihen der Tschechen berufen
werden! Fürwahr, das Ding wäre sehr lächerlich, wenn es nicht eine so ernste
Rückseite hätte.

Um diesen Brief nicht zu, lang werden zu lassen, hebe ich für heute nur
noch einen Umstand aus dem Bereiche der Justiz hervor, um zu zeigen, wie
gründlich hier allenthalben das Deutschtum ausgejätet und das Tschechentum
gepflanzt wird. Aus „Ersparnisrücksichtcn" wurden 1384 die Listen des Ge¬
schwornengerichts in Böhmisch-Leipa so zusammengesetzt, daß ganze große Be¬
zirke, die entfernter lagen, dabei völlig unberücksichtigt blieben. Die Sache
hatte dort nicht viel zu bedeuten, da in Leipa nur Deutsche andre Deutsche
richten. Ganz anders steht es in doppelsprachigen Bezirken. Im Jahre 1884
zählte das Schwurgericht in Königsgrätz 328, das in Jitschin 340 Haupt¬
geschworne. Verglichen mit der Zusammensetzung derselben in den vorher¬
gegangenen Jahren zeigten die neuen Listen eine bedeutende Veränderung, indem
darin die vom Kreisgerichtssitze entlegneren deutschen Gerichtsbezirke ent¬
weder nur durch sehr wenige Geschworne oder garnicht vertreten waren. So
z. B. hatte Braunau im Jahre 1883 noch neunzehn, Grullas noch dreizehn,
Nokitnitz noch acht Geschworne gestellt, während der erstgenannte Bezirk jetzt
nur sechs, der zweite nur drei und der dritte ebenfalls nur so viele entsandte.
Bei dem Kreisgerichte Jitschin waren 1883 aus dem Bezirke Arrau dreiund¬
dreißig, jetzt zwei, aus Hohenelbe früher vierundfünfzig, jetzt auch nur zwei,
aus Trautenau vorher dreißig, jetzt drei, und die deutschen Bezirke Rochlitz,
Marscheudorf und Schatzlar waren in der Jahresliste von 1883 garnicht durch
Geschworne vertreten. Ein andrer Bericht fügt hinzu: „Aus dem Gerichts¬
bezirke Rokitnitz, in welchem nur eine gemischte Gemeinde, Rehberg, besteht,
wurde richtig ein Tscheche aus dieser letzteren, dann wurden zwei Tschechen aus
der Stadt Rokitnitz, aber kein einziger Deutscher unter sämtlichen drei Be¬
rufenen des Bezirks zu Geschwornen bestimmt. In dem Gerichtsbezirke Grullas,
wo es nur eine tschechische Gemeinde, Studeney, giebt, wurde ein Tscheche aus
dieser zum Geschwornen genommen. Aus den deutschen Gemeinden des Bezirks
Neustadt, der eine Bevölkerung von mehr als 6500 Seelen hat, wurde ebenso¬
wenig wie aus denen des Bezirks Pölitz ein Deutscher zum Geschwornenamte
berufen. Derartige Vernachlässigung ist sicherlich weder durch „Ersparungs-
rücksichten" noch durch Zufall zu erklären. Solche Zahlenverhältnisse sprechen
wohl deutlicher als manche Resolution im böhmischen Landtage und öster¬
reichischen Abgeordnetenhause dafür, daß eine Teilung der gerichtlichen und
administrativen Bezirke Böhmens nach den beiden Sprachen der Bevölkerung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/64>, abgerufen am 17.09.2024.