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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Wilhelm Schorer über die Lntstehiingsgeschichte von Gleiches Faust.

tausend von Thränen und Schmerzen vermöchten die Seligkeit nicht aufzu-
wiegen." Auch der Gesamtton jener Faustszene unterscheidet sich in nichts von
den wilden Ausbrüchen der Leidenschaft im Clavigo und in der Stella.

Nun müssen wir aber noch prüfen, wie es sich mit den Prosastellen ver¬
hält, die angeblich mitten im gereimten Faust ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt
haben. Scherer rechnet hierher vier Stellen.

1. Die Worte, die Faust spricht, nachdem er das Zeichen des Erdgeistes
aufgeschlagen hat:

"Es wölbt sich über mir -- der Mond verbirgt fein Licht -- die Lampe
schwindet! Es dampft! Es zucken rote Strahlen mir um das Haupt -- Es weht
ein Schauer vom Gewölb herab und faßt mich an! Ich fühl's, du schwebst um
mich, erflehter Geist! Erdhütte dich!"

2. Die Worte nach Gretchens Blumenorakel:

Faust: Ja mein Kind! Laß dieses Blumenwort dir Götterausspruch sein.
Er liebt dich! Verstehst du, was das heißt? Er liebt dich! (Er faßt ihre beideu
Hände.)

Margarethe: Mich überläuft's!

Faust: O schaudre nicht! Laß diesen Blick, laß diesen Händedruck dir sagen,
was unaussprechlich ist: sich hinzugeben ganz und eine Wonne zu fühlen, die ewig
sein muß! Ewig! -- Ihr Ende würde Verzweiflung sein. Nein, kein Eude!
kein Ende!

3. Fausts Glaubensbekenntnis: "Der Allumfcisser, der Allerhalter, faßt
und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?" u. s. w.

4. Die Domszene, wo gleichfalls die reimlosen Verse als Prosa aufzufassen
sein sollen.

Was die beiden ersten Stellen betrifft, so treten diese allerdings dnrch ihre
Reimlosigkeit aus der Umgebung hervor, in welcher sie stehen, wenn sich auch
ein gewisser rhythmischer Tonfall in ihnen zeigt. Aber die Stellen als Über¬
reste einer vorhergehenden prosaischen Fassung zu betrachten, dazu liegt doch
gar kein Grund vor. Die Rede, die anfangs im regelmäßigen Gange der ge¬
reimten Verse dahinfloß, durchbricht hier gewaltig und leidenschaftlich die be¬
engenden Schranken des Versmaßes, ähnlich wie z. B. Othello, als er durch
Jagos Einflüsterungen zur höchsten Raserei aufgestachelt wird (Akt 4, Szene 1),
aus den Blankversen plötzlich in die Prvsarede überspringt. Scherer muß
natürlich auch annehmen, daß Goethe von bestimmten künstlerischen Absichten
geleitet gewesen sei, wenn er an den betreffenden Stellen die ursprüngliche
Prosa stehen ließ. Er sagt: "Goethe fürchtete durch eine Umarbeitung in
Reimverse das glänzend naturwahre, das hier nicht entbehrt werden kann, zu
verwischen." Aber warum sollen wir nicht lieber annehmen, daß der Dichter,
um dies "glänzend naturwahre" zu erreichen, sich gleich beim ersten Entwurf
an diesen Stellen durch Reim und Rhythmus nicht einschränken ließ?

Völlig unbegreiflich ist es, wie Scherer sich auf die dritte und vierte Stelle


Wilhelm Schorer über die Lntstehiingsgeschichte von Gleiches Faust.

tausend von Thränen und Schmerzen vermöchten die Seligkeit nicht aufzu-
wiegen." Auch der Gesamtton jener Faustszene unterscheidet sich in nichts von
den wilden Ausbrüchen der Leidenschaft im Clavigo und in der Stella.

Nun müssen wir aber noch prüfen, wie es sich mit den Prosastellen ver¬
hält, die angeblich mitten im gereimten Faust ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt
haben. Scherer rechnet hierher vier Stellen.

1. Die Worte, die Faust spricht, nachdem er das Zeichen des Erdgeistes
aufgeschlagen hat:

„Es wölbt sich über mir — der Mond verbirgt fein Licht — die Lampe
schwindet! Es dampft! Es zucken rote Strahlen mir um das Haupt — Es weht
ein Schauer vom Gewölb herab und faßt mich an! Ich fühl's, du schwebst um
mich, erflehter Geist! Erdhütte dich!"

2. Die Worte nach Gretchens Blumenorakel:

Faust: Ja mein Kind! Laß dieses Blumenwort dir Götterausspruch sein.
Er liebt dich! Verstehst du, was das heißt? Er liebt dich! (Er faßt ihre beideu
Hände.)

Margarethe: Mich überläuft's!

Faust: O schaudre nicht! Laß diesen Blick, laß diesen Händedruck dir sagen,
was unaussprechlich ist: sich hinzugeben ganz und eine Wonne zu fühlen, die ewig
sein muß! Ewig! — Ihr Ende würde Verzweiflung sein. Nein, kein Eude!
kein Ende!

3. Fausts Glaubensbekenntnis: „Der Allumfcisser, der Allerhalter, faßt
und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?" u. s. w.

4. Die Domszene, wo gleichfalls die reimlosen Verse als Prosa aufzufassen
sein sollen.

Was die beiden ersten Stellen betrifft, so treten diese allerdings dnrch ihre
Reimlosigkeit aus der Umgebung hervor, in welcher sie stehen, wenn sich auch
ein gewisser rhythmischer Tonfall in ihnen zeigt. Aber die Stellen als Über¬
reste einer vorhergehenden prosaischen Fassung zu betrachten, dazu liegt doch
gar kein Grund vor. Die Rede, die anfangs im regelmäßigen Gange der ge¬
reimten Verse dahinfloß, durchbricht hier gewaltig und leidenschaftlich die be¬
engenden Schranken des Versmaßes, ähnlich wie z. B. Othello, als er durch
Jagos Einflüsterungen zur höchsten Raserei aufgestachelt wird (Akt 4, Szene 1),
aus den Blankversen plötzlich in die Prvsarede überspringt. Scherer muß
natürlich auch annehmen, daß Goethe von bestimmten künstlerischen Absichten
geleitet gewesen sei, wenn er an den betreffenden Stellen die ursprüngliche
Prosa stehen ließ. Er sagt: „Goethe fürchtete durch eine Umarbeitung in
Reimverse das glänzend naturwahre, das hier nicht entbehrt werden kann, zu
verwischen." Aber warum sollen wir nicht lieber annehmen, daß der Dichter,
um dies „glänzend naturwahre" zu erreichen, sich gleich beim ersten Entwurf
an diesen Stellen durch Reim und Rhythmus nicht einschränken ließ?

Völlig unbegreiflich ist es, wie Scherer sich auf die dritte und vierte Stelle


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[0637] Wilhelm Schorer über die Lntstehiingsgeschichte von Gleiches Faust. tausend von Thränen und Schmerzen vermöchten die Seligkeit nicht aufzu- wiegen." Auch der Gesamtton jener Faustszene unterscheidet sich in nichts von den wilden Ausbrüchen der Leidenschaft im Clavigo und in der Stella. Nun müssen wir aber noch prüfen, wie es sich mit den Prosastellen ver¬ hält, die angeblich mitten im gereimten Faust ihre ursprüngliche Gestalt bewahrt haben. Scherer rechnet hierher vier Stellen. 1. Die Worte, die Faust spricht, nachdem er das Zeichen des Erdgeistes aufgeschlagen hat: „Es wölbt sich über mir — der Mond verbirgt fein Licht — die Lampe schwindet! Es dampft! Es zucken rote Strahlen mir um das Haupt — Es weht ein Schauer vom Gewölb herab und faßt mich an! Ich fühl's, du schwebst um mich, erflehter Geist! Erdhütte dich!" 2. Die Worte nach Gretchens Blumenorakel: Faust: Ja mein Kind! Laß dieses Blumenwort dir Götterausspruch sein. Er liebt dich! Verstehst du, was das heißt? Er liebt dich! (Er faßt ihre beideu Hände.) Margarethe: Mich überläuft's! Faust: O schaudre nicht! Laß diesen Blick, laß diesen Händedruck dir sagen, was unaussprechlich ist: sich hinzugeben ganz und eine Wonne zu fühlen, die ewig sein muß! Ewig! — Ihr Ende würde Verzweiflung sein. Nein, kein Eude! kein Ende! 3. Fausts Glaubensbekenntnis: „Der Allumfcisser, der Allerhalter, faßt und erhält er nicht dich, mich, sich selbst?" u. s. w. 4. Die Domszene, wo gleichfalls die reimlosen Verse als Prosa aufzufassen sein sollen. Was die beiden ersten Stellen betrifft, so treten diese allerdings dnrch ihre Reimlosigkeit aus der Umgebung hervor, in welcher sie stehen, wenn sich auch ein gewisser rhythmischer Tonfall in ihnen zeigt. Aber die Stellen als Über¬ reste einer vorhergehenden prosaischen Fassung zu betrachten, dazu liegt doch gar kein Grund vor. Die Rede, die anfangs im regelmäßigen Gange der ge¬ reimten Verse dahinfloß, durchbricht hier gewaltig und leidenschaftlich die be¬ engenden Schranken des Versmaßes, ähnlich wie z. B. Othello, als er durch Jagos Einflüsterungen zur höchsten Raserei aufgestachelt wird (Akt 4, Szene 1), aus den Blankversen plötzlich in die Prvsarede überspringt. Scherer muß natürlich auch annehmen, daß Goethe von bestimmten künstlerischen Absichten geleitet gewesen sei, wenn er an den betreffenden Stellen die ursprüngliche Prosa stehen ließ. Er sagt: „Goethe fürchtete durch eine Umarbeitung in Reimverse das glänzend naturwahre, das hier nicht entbehrt werden kann, zu verwischen." Aber warum sollen wir nicht lieber annehmen, daß der Dichter, um dies „glänzend naturwahre" zu erreichen, sich gleich beim ersten Entwurf an diesen Stellen durch Reim und Rhythmus nicht einschränken ließ? Völlig unbegreiflich ist es, wie Scherer sich auf die dritte und vierte Stelle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/637>, abgerufen am 17.09.2024.