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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

wahr? und wenn es wahr ist, wie war es möglich? Und die Frage tauchte
mir mit allem Ernste wieder auf, als ich neulich in Lindaus trefflichem Buche
über Cranach fand, daß solche Geschichtchen doch auch bei uns auftreten in der
Zeit des Aufblühens der Kunst.*)

Da kommt freilich ein kritisches Bedenken störend dazwischen: man kannte
ja jene Geschichten aus dem Altertum, und die Zeit war so naiv beflissen,
alles Schöne und Merkwürdige aus der neu erschlossenen glänzenden Vorzeit
der Culturwelt auch für sich zu gewinnen, auch kurzweg in der Nähe im eignen
Leben wiederzufinden, wobei denn auch naiv -- gelogen werden durfte. So
wird man auch hier den Verdacht nicht ganz los, daß man es mit naiver Ge¬
lehrsamkeit zu thun habe statt mit Wahrheit. Aber man kann in dem Verdachte
auch zu weit gehen, und folgender Fall sieht denn doch aus, wie aus der Wirk¬
lichkeit und eignem Erleben stammend.

Christ. schnürt erzählt von Lucas Cranach im Jahre 1509: "In Torgau
hast du an der Wand Hangende Fasanen, Rebhühner n. s. w. gemalt (offenbar
als Schmuck eines Jagdzimmers), die einstmals der Graf von Schwarzburg,
als er sie erblickte, hinaufzubringen befahl, damit sie nicht übel rochen, und
da er sich deshalb von dem Herzog ausgelacht sah, näher tretend mit einem
Eide (d. h. fluchend) versicherte, daß wenigstens der eine Flügel einer lebendigen
Ente angehöre."

Scheurl, ein Nürnberger, lebte damals in Wittenberg, in täglichem Um¬
gang mit Cranach, der seit 1504 Hofmaler war, die Geschichte tritt uns also
da ganz nahe an ihrer Quelle entgegen, während jene griechischen Anekdoten
wer weiß wie viel später zuerst zur Niederschrift gekommen sind, und da sie
Scheurl öffentlich dem Cranach gleichsam ins Gesicht sagt, kann sie nicht
schlechthin gelehrt erlogen sein. Und dennoch wird uns das zu glauben oder
uns vorzustellen immer wieder so schwer, eben wie die entsprechenden Ge¬
schichtchen von Zeuxis und Parrhasius bei Plinius.

Man muß, um hinter die Sache zu kommen, sich erinnern, daß es ein
sehr verschiedenes Sehen giebt, den Gegenständen der Natur wie der Kunst
gegenüber. Wie anders sieht nicht z. B. der Künstler eine Menschengestalt,
einen Kunstbau, eine Hütte, eine Baumgruppe u. s. w., als der Laie. Und ich
zweifle nicht, daß es in diesem Sehen der Gegenstände eine geschichtliche Ent¬
wicklung giebt, innerhalb der Kunst ebensogut wie außer ihr bei denen, für
welche die Künstler schufen. Dieser Entwickelung nachzugehen hat aber einen
großen Reiz, ja einen entschiedenen Wert, oder wird sogar zu einer Forderung
auch an den Gebildete", nicht bloß an den Kunstgelehrten in einer Zeit wie
unsre, die von einem ganz gesunden Triebe geleitet, der Vorzeit eine wachsende



") M. B. Lindau, Lucas Cranach (Leipzig, 1883) S. 70. Es steht eine ganze Reihe
solcher Geschichtchen dort.
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

wahr? und wenn es wahr ist, wie war es möglich? Und die Frage tauchte
mir mit allem Ernste wieder auf, als ich neulich in Lindaus trefflichem Buche
über Cranach fand, daß solche Geschichtchen doch auch bei uns auftreten in der
Zeit des Aufblühens der Kunst.*)

Da kommt freilich ein kritisches Bedenken störend dazwischen: man kannte
ja jene Geschichten aus dem Altertum, und die Zeit war so naiv beflissen,
alles Schöne und Merkwürdige aus der neu erschlossenen glänzenden Vorzeit
der Culturwelt auch für sich zu gewinnen, auch kurzweg in der Nähe im eignen
Leben wiederzufinden, wobei denn auch naiv — gelogen werden durfte. So
wird man auch hier den Verdacht nicht ganz los, daß man es mit naiver Ge¬
lehrsamkeit zu thun habe statt mit Wahrheit. Aber man kann in dem Verdachte
auch zu weit gehen, und folgender Fall sieht denn doch aus, wie aus der Wirk¬
lichkeit und eignem Erleben stammend.

Christ. schnürt erzählt von Lucas Cranach im Jahre 1509: „In Torgau
hast du an der Wand Hangende Fasanen, Rebhühner n. s. w. gemalt (offenbar
als Schmuck eines Jagdzimmers), die einstmals der Graf von Schwarzburg,
als er sie erblickte, hinaufzubringen befahl, damit sie nicht übel rochen, und
da er sich deshalb von dem Herzog ausgelacht sah, näher tretend mit einem
Eide (d. h. fluchend) versicherte, daß wenigstens der eine Flügel einer lebendigen
Ente angehöre."

Scheurl, ein Nürnberger, lebte damals in Wittenberg, in täglichem Um¬
gang mit Cranach, der seit 1504 Hofmaler war, die Geschichte tritt uns also
da ganz nahe an ihrer Quelle entgegen, während jene griechischen Anekdoten
wer weiß wie viel später zuerst zur Niederschrift gekommen sind, und da sie
Scheurl öffentlich dem Cranach gleichsam ins Gesicht sagt, kann sie nicht
schlechthin gelehrt erlogen sein. Und dennoch wird uns das zu glauben oder
uns vorzustellen immer wieder so schwer, eben wie die entsprechenden Ge¬
schichtchen von Zeuxis und Parrhasius bei Plinius.

Man muß, um hinter die Sache zu kommen, sich erinnern, daß es ein
sehr verschiedenes Sehen giebt, den Gegenständen der Natur wie der Kunst
gegenüber. Wie anders sieht nicht z. B. der Künstler eine Menschengestalt,
einen Kunstbau, eine Hütte, eine Baumgruppe u. s. w., als der Laie. Und ich
zweifle nicht, daß es in diesem Sehen der Gegenstände eine geschichtliche Ent¬
wicklung giebt, innerhalb der Kunst ebensogut wie außer ihr bei denen, für
welche die Künstler schufen. Dieser Entwickelung nachzugehen hat aber einen
großen Reiz, ja einen entschiedenen Wert, oder wird sogar zu einer Forderung
auch an den Gebildete», nicht bloß an den Kunstgelehrten in einer Zeit wie
unsre, die von einem ganz gesunden Triebe geleitet, der Vorzeit eine wachsende



") M. B. Lindau, Lucas Cranach (Leipzig, 1883) S. 70. Es steht eine ganze Reihe
solcher Geschichtchen dort.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/596>, abgerufen am 17.09.2024.