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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Wege sich auf alltäglichen Gebiete, so treten sofort so überraschende und fesselnde
Wendungen auf, die gleich wieder neuen Überraschungen Platz machen, daß man
gezwungen wird, der geistreichen, sinnlichen Musik zu solgen, gleichviel, wenn sie
die entfesselten Leidenschaften darstellt und in den überraschendsten Dissonanzen
herumwühlt, als wenn sie die zartesten Regungen des Menschenherzens in durch¬
sichtigem Colorit malt" u. s. w.

Man sieht ja das Bild eines gewaltigen Tonwcrkes vor sich, das den
Berichterstatter, wie das die Sprache nennt, "hingerissen" hat, das heißt aber
eigentlich: mit sich reißend fortgeschleppt -- wohin denn? Die Wirkung ist, das
tritt im Bilde am meisten vor: sinnberauschend, sinnbestrickend -- fieberhafte
Spannung und Aufregung -- alle Nerven erregt -- herumwühlen in Disso¬
nanzen -- mich wundert, wie mirs oft geht in ähnlichen Fällen, daß dabei der
Verfasser nicht eine Regung von Schreck gehabt hat, noch beim Niederschreiben
wenigstens, das doch mit seiner Langsamkeit Zeit giebt, daß von unten die ge¬
sunde Empfindung mahnend hineinspreche in die Gedankenjagd des Kopfes. Denn
Erregung aller Nerven, fieberhafte Aufregung u. s. w., das ist es ja, woran
die Zeit leidet, woran so viele täglich in wahrem Elend wühlen oder gar zu
Grunde gehen -- und hier wird als zur höchsten Kunst gehörig gepriesen, was
mit den ausgesuchtesten Mitteln dies Leiden, diese Gefahr steigert?

Allerdings wäre gerade jetzt die nervöse Aufregung unsrer Bildungswelt
der wichtigste oder oberste Arbeitsgegenstand der Kunst, am meisten vielleicht
der Tonkunst; denn in ihr, ich meine in dieser Aufregung und Unruhe, sind
eigentlich alle die Fragen verborgen, die unbeantwortet in den Eingeweiden des
Zeitgeistes wühlen und beruhigende Antwort fordern, welche die Kunst besser
finden kann, als die auch darnach suchende Philosophie (am besten beide in schwester¬
lichen Einklang), Antworten, die gefunden werden müssen, Wenns mit uns gut
weiter gehen soll, sollten es am Ende auch nur uralte Antworten sein, in neuer
Fassung. Ja, das wäre die heilige Aufgabe der Kunst, zumal seit sie bei den
Gebildeten zugleich die Religion vertreten soll, wie das gerade bei Wagner voll-
bewußtes Ziel war. Die Aufgabe wäre aber doch: die Aufregung zu über¬
winden, die tief wühlende Unruhe in große Ruhe und damit in Kraft umzu¬
setzen. Das geschähe aber nicht durch Versenken in das Aufregende, in dem
man sich "sinnberauscht" verliert, sondern durch Überhöhung des Aufregenden
der wirbelnden Sinnenwelt in beherrschende reine Höhe hinauf, auf der man
von der Sinnenwelt nichts einbüßt, was an ihr wert ist, sondern es erst recht
"ut rein gewinnt. Das wäre das rechte "Hinreißen," auch zu dem rechten
Ziele. So thut auch von jeher alle echte, große Kunst, und nun hat man das
vergessen oder verschmäht es? oder kanns nicht mehr? Wozu nützt uns dann
alle Kunstwissenschaft und Kunstphilosophie, in denen wir weiter zu sein wühlten,
vielleicht auch sind, als je eine Zeit vorher?

Freilich, Erhebung in reine Höhe, das ist ein Ding, wogegen der tonan-


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Wege sich auf alltäglichen Gebiete, so treten sofort so überraschende und fesselnde
Wendungen auf, die gleich wieder neuen Überraschungen Platz machen, daß man
gezwungen wird, der geistreichen, sinnlichen Musik zu solgen, gleichviel, wenn sie
die entfesselten Leidenschaften darstellt und in den überraschendsten Dissonanzen
herumwühlt, als wenn sie die zartesten Regungen des Menschenherzens in durch¬
sichtigem Colorit malt" u. s. w.

Man sieht ja das Bild eines gewaltigen Tonwcrkes vor sich, das den
Berichterstatter, wie das die Sprache nennt, „hingerissen" hat, das heißt aber
eigentlich: mit sich reißend fortgeschleppt — wohin denn? Die Wirkung ist, das
tritt im Bilde am meisten vor: sinnberauschend, sinnbestrickend — fieberhafte
Spannung und Aufregung — alle Nerven erregt — herumwühlen in Disso¬
nanzen — mich wundert, wie mirs oft geht in ähnlichen Fällen, daß dabei der
Verfasser nicht eine Regung von Schreck gehabt hat, noch beim Niederschreiben
wenigstens, das doch mit seiner Langsamkeit Zeit giebt, daß von unten die ge¬
sunde Empfindung mahnend hineinspreche in die Gedankenjagd des Kopfes. Denn
Erregung aller Nerven, fieberhafte Aufregung u. s. w., das ist es ja, woran
die Zeit leidet, woran so viele täglich in wahrem Elend wühlen oder gar zu
Grunde gehen — und hier wird als zur höchsten Kunst gehörig gepriesen, was
mit den ausgesuchtesten Mitteln dies Leiden, diese Gefahr steigert?

Allerdings wäre gerade jetzt die nervöse Aufregung unsrer Bildungswelt
der wichtigste oder oberste Arbeitsgegenstand der Kunst, am meisten vielleicht
der Tonkunst; denn in ihr, ich meine in dieser Aufregung und Unruhe, sind
eigentlich alle die Fragen verborgen, die unbeantwortet in den Eingeweiden des
Zeitgeistes wühlen und beruhigende Antwort fordern, welche die Kunst besser
finden kann, als die auch darnach suchende Philosophie (am besten beide in schwester¬
lichen Einklang), Antworten, die gefunden werden müssen, Wenns mit uns gut
weiter gehen soll, sollten es am Ende auch nur uralte Antworten sein, in neuer
Fassung. Ja, das wäre die heilige Aufgabe der Kunst, zumal seit sie bei den
Gebildeten zugleich die Religion vertreten soll, wie das gerade bei Wagner voll-
bewußtes Ziel war. Die Aufgabe wäre aber doch: die Aufregung zu über¬
winden, die tief wühlende Unruhe in große Ruhe und damit in Kraft umzu¬
setzen. Das geschähe aber nicht durch Versenken in das Aufregende, in dem
man sich „sinnberauscht" verliert, sondern durch Überhöhung des Aufregenden
der wirbelnden Sinnenwelt in beherrschende reine Höhe hinauf, auf der man
von der Sinnenwelt nichts einbüßt, was an ihr wert ist, sondern es erst recht
"ut rein gewinnt. Das wäre das rechte „Hinreißen," auch zu dem rechten
Ziele. So thut auch von jeher alle echte, große Kunst, und nun hat man das
vergessen oder verschmäht es? oder kanns nicht mehr? Wozu nützt uns dann
alle Kunstwissenschaft und Kunstphilosophie, in denen wir weiter zu sein wühlten,
vielleicht auch sind, als je eine Zeit vorher?

Freilich, Erhebung in reine Höhe, das ist ein Ding, wogegen der tonan-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/535>, abgerufen am 17.09.2024.