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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Wiener Romane.

flüssiger Leichtigkeit, darum gelingt ihm in jedem Falle die Lokalfarbe, mag er
das Innere des Freihauses schildern, mag er die flüchtige Stimmung eines
Sommermorgens oder die eines ungemütlichen Regentages in der Stadt Wien
mit Worten auffangen, mag er die Häuslichkeit einer Dirne oder die eines
armseligen Zimmerherrn schildern, oder uns in die weingcschwängerte Atmosphäre
eines Wirtshausabends bei den Volkssängern führen. Und wenn es auch seinem
Roman noch an jener Tiefe der sozialen Anschauung fehlt, welche durch das
Bild eines kleinen Kreises hindurch die Aussicht auf die dahinterstehende größere
Volksmenge eröffnet, wenn man auch bedauern muß, daß er sich das Gebiet
seiner Darstellung allzuscharf gegen die andern Stände abgegrenzt, den Schau-
Platz seiner Handlung eiuer Insel gleich vom übrigen Wien abgetrennt hat, so
ist das doch eine Schwäche, welche dem Erstlingswerke eines begabten Schrift¬
stellers nicht allzuhoch angerechnet werden darf.

Die Heldin der Erzählung ist die schöne Lori, die Tochter des Baupoliers
Schober. Ihre Schönheit ist ihr Schicksal. Weil sie schön ist, wird sie von
Jugend auf aller Pflicht zu arbeiten enthoben: ihre Schönheit entwaffnet den
Zorn des Vaters, regt in der Kanaille von Mutter die abenteuerlichsten Pläne
an, erfüllt Lori selbst mit Hochmut und Eitelkeit und wird der Quell aller
Wirren. Als sie heiratsfähig geworden, ist ihr kein Mann gut genug: einen
märchenhaften Prinzen erwartet sie von Tag zu Tag, und inzwischen spielt sie
mit dem Herzen des rechtschaffenen jungen Bauführers Franz, dem sie sich von
den Eltern gedrängt anverlobt hatte. Aber ihre Vergnügungs- und Putzsucht
stürzt den verliebten Bräutigam ins Unglück: er vergreift sich an dem ihm
anvertrauten Gelde seines Bauherrn. Das herzlose Mädchen hat mit dem un¬
glücklichen Manne nicht das geringste Mitgefühl: sie vergißt, daß er nur durch
ihre tollen Ansprüche zum Verbrecher geworden ist, sie sieht nur seine Armut
und die drohende Schmach, die sie so entsetzlich haßt. Kurz entschlossen, ent¬
flieht sie aus dem elterlichen Hause und nimmt das früher ausgeschlagene
Angebot des jungen reichen Lebemannes Wiesingcr an -- sie wird seine Maitresse.
Als solche bezieht sie eine glänzende Wohnung in einer fashionablen Straße,
nimmt Gesangsunterricht und lebt mit der zu ihr gezogenen Mutter sorglos
in den Tag hinein. Der Vater ihres "Freundes," ein vom niedersten Bau¬
arbeiter zum reichen Häuserspekulanten aufgestiegener Mann, kommt seinem
Sohne eines schönen Tages hinter einen Diebstahlversuch am eignen väterlichen
Vermögen; das Geld bleibt seitdem bei der schönen Lori aus -- so wird ihr dies
nur ein Anlaß mehr, tiefer zu sinken. Der alte Baumeister Wiesiuger gerät dabei
selbst in deu Zauberkreis der schöne" Lori, die nur leider zuweilen auch an die
Dummheit der Rama Zvlas erinnert. Der Schluß der Geschichte ist ganz verun¬
glückt: Lori füllt bei einer Praterfahrt vom Bock ihres eleganten Wägelchens,
da die Pferde scheu geworden sind, und stirbt dabei. Dieses Saltomortale zeigt
nur die Verlegenheit des Dichters, die Handlung stilgerecht zu Ende zu führen.


Zwei Wiener Romane.

flüssiger Leichtigkeit, darum gelingt ihm in jedem Falle die Lokalfarbe, mag er
das Innere des Freihauses schildern, mag er die flüchtige Stimmung eines
Sommermorgens oder die eines ungemütlichen Regentages in der Stadt Wien
mit Worten auffangen, mag er die Häuslichkeit einer Dirne oder die eines
armseligen Zimmerherrn schildern, oder uns in die weingcschwängerte Atmosphäre
eines Wirtshausabends bei den Volkssängern führen. Und wenn es auch seinem
Roman noch an jener Tiefe der sozialen Anschauung fehlt, welche durch das
Bild eines kleinen Kreises hindurch die Aussicht auf die dahinterstehende größere
Volksmenge eröffnet, wenn man auch bedauern muß, daß er sich das Gebiet
seiner Darstellung allzuscharf gegen die andern Stände abgegrenzt, den Schau-
Platz seiner Handlung eiuer Insel gleich vom übrigen Wien abgetrennt hat, so
ist das doch eine Schwäche, welche dem Erstlingswerke eines begabten Schrift¬
stellers nicht allzuhoch angerechnet werden darf.

Die Heldin der Erzählung ist die schöne Lori, die Tochter des Baupoliers
Schober. Ihre Schönheit ist ihr Schicksal. Weil sie schön ist, wird sie von
Jugend auf aller Pflicht zu arbeiten enthoben: ihre Schönheit entwaffnet den
Zorn des Vaters, regt in der Kanaille von Mutter die abenteuerlichsten Pläne
an, erfüllt Lori selbst mit Hochmut und Eitelkeit und wird der Quell aller
Wirren. Als sie heiratsfähig geworden, ist ihr kein Mann gut genug: einen
märchenhaften Prinzen erwartet sie von Tag zu Tag, und inzwischen spielt sie
mit dem Herzen des rechtschaffenen jungen Bauführers Franz, dem sie sich von
den Eltern gedrängt anverlobt hatte. Aber ihre Vergnügungs- und Putzsucht
stürzt den verliebten Bräutigam ins Unglück: er vergreift sich an dem ihm
anvertrauten Gelde seines Bauherrn. Das herzlose Mädchen hat mit dem un¬
glücklichen Manne nicht das geringste Mitgefühl: sie vergißt, daß er nur durch
ihre tollen Ansprüche zum Verbrecher geworden ist, sie sieht nur seine Armut
und die drohende Schmach, die sie so entsetzlich haßt. Kurz entschlossen, ent¬
flieht sie aus dem elterlichen Hause und nimmt das früher ausgeschlagene
Angebot des jungen reichen Lebemannes Wiesingcr an — sie wird seine Maitresse.
Als solche bezieht sie eine glänzende Wohnung in einer fashionablen Straße,
nimmt Gesangsunterricht und lebt mit der zu ihr gezogenen Mutter sorglos
in den Tag hinein. Der Vater ihres „Freundes," ein vom niedersten Bau¬
arbeiter zum reichen Häuserspekulanten aufgestiegener Mann, kommt seinem
Sohne eines schönen Tages hinter einen Diebstahlversuch am eignen väterlichen
Vermögen; das Geld bleibt seitdem bei der schönen Lori aus — so wird ihr dies
nur ein Anlaß mehr, tiefer zu sinken. Der alte Baumeister Wiesiuger gerät dabei
selbst in deu Zauberkreis der schöne» Lori, die nur leider zuweilen auch an die
Dummheit der Rama Zvlas erinnert. Der Schluß der Geschichte ist ganz verun¬
glückt: Lori füllt bei einer Praterfahrt vom Bock ihres eleganten Wägelchens,
da die Pferde scheu geworden sind, und stirbt dabei. Dieses Saltomortale zeigt
nur die Verlegenheit des Dichters, die Handlung stilgerecht zu Ende zu führen.


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[0045] Zwei Wiener Romane. flüssiger Leichtigkeit, darum gelingt ihm in jedem Falle die Lokalfarbe, mag er das Innere des Freihauses schildern, mag er die flüchtige Stimmung eines Sommermorgens oder die eines ungemütlichen Regentages in der Stadt Wien mit Worten auffangen, mag er die Häuslichkeit einer Dirne oder die eines armseligen Zimmerherrn schildern, oder uns in die weingcschwängerte Atmosphäre eines Wirtshausabends bei den Volkssängern führen. Und wenn es auch seinem Roman noch an jener Tiefe der sozialen Anschauung fehlt, welche durch das Bild eines kleinen Kreises hindurch die Aussicht auf die dahinterstehende größere Volksmenge eröffnet, wenn man auch bedauern muß, daß er sich das Gebiet seiner Darstellung allzuscharf gegen die andern Stände abgegrenzt, den Schau- Platz seiner Handlung eiuer Insel gleich vom übrigen Wien abgetrennt hat, so ist das doch eine Schwäche, welche dem Erstlingswerke eines begabten Schrift¬ stellers nicht allzuhoch angerechnet werden darf. Die Heldin der Erzählung ist die schöne Lori, die Tochter des Baupoliers Schober. Ihre Schönheit ist ihr Schicksal. Weil sie schön ist, wird sie von Jugend auf aller Pflicht zu arbeiten enthoben: ihre Schönheit entwaffnet den Zorn des Vaters, regt in der Kanaille von Mutter die abenteuerlichsten Pläne an, erfüllt Lori selbst mit Hochmut und Eitelkeit und wird der Quell aller Wirren. Als sie heiratsfähig geworden, ist ihr kein Mann gut genug: einen märchenhaften Prinzen erwartet sie von Tag zu Tag, und inzwischen spielt sie mit dem Herzen des rechtschaffenen jungen Bauführers Franz, dem sie sich von den Eltern gedrängt anverlobt hatte. Aber ihre Vergnügungs- und Putzsucht stürzt den verliebten Bräutigam ins Unglück: er vergreift sich an dem ihm anvertrauten Gelde seines Bauherrn. Das herzlose Mädchen hat mit dem un¬ glücklichen Manne nicht das geringste Mitgefühl: sie vergißt, daß er nur durch ihre tollen Ansprüche zum Verbrecher geworden ist, sie sieht nur seine Armut und die drohende Schmach, die sie so entsetzlich haßt. Kurz entschlossen, ent¬ flieht sie aus dem elterlichen Hause und nimmt das früher ausgeschlagene Angebot des jungen reichen Lebemannes Wiesingcr an — sie wird seine Maitresse. Als solche bezieht sie eine glänzende Wohnung in einer fashionablen Straße, nimmt Gesangsunterricht und lebt mit der zu ihr gezogenen Mutter sorglos in den Tag hinein. Der Vater ihres „Freundes," ein vom niedersten Bau¬ arbeiter zum reichen Häuserspekulanten aufgestiegener Mann, kommt seinem Sohne eines schönen Tages hinter einen Diebstahlversuch am eignen väterlichen Vermögen; das Geld bleibt seitdem bei der schönen Lori aus — so wird ihr dies nur ein Anlaß mehr, tiefer zu sinken. Der alte Baumeister Wiesiuger gerät dabei selbst in deu Zauberkreis der schöne» Lori, die nur leider zuweilen auch an die Dummheit der Rama Zvlas erinnert. Der Schluß der Geschichte ist ganz verun¬ glückt: Lori füllt bei einer Praterfahrt vom Bock ihres eleganten Wägelchens, da die Pferde scheu geworden sind, und stirbt dabei. Dieses Saltomortale zeigt nur die Verlegenheit des Dichters, die Handlung stilgerecht zu Ende zu führen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/45>, abgerufen am 17.09.2024.