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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Entartung des Konstitutionalismus.

Von der Bedeutung seiner eignen Person in allen möglichen öffentlichen Ange¬
legenheiten bei sich großzieht. Zu tausend Dingen, um die er sich, auf sich
selber und sein Geschäft beschränkt, entweder gar nicht oder nur aufnehmend
bekümmern würde, wird er als hervorbringendes, mitschaffendes und mitbestim¬
mendes Element sozusagen an den Haaren herbeigezogen. Bald soll er als
Mensch im allgemeinen, bald als Christ, bald als Deutscher, bald als Staats¬
bürger, bald als Stadtbürger, als Prvfessionist, als Kunstfreund, als Sports-
man, als -- was weiß ich -- mit raten, thaten, tagen und nächtigen. Heute
ist er Vorstands- oder Ausschußmitglied hier, morgen Kommissiousmitglied dort,
übermorgen Schriftführer wieder wo anders, und überall soll er kritisiren,
opponiren, vou allem etwas verstehen, vor allen Dingen aber überall dem
Vorstände das Leben sauer machen. Denn stimmt er ihm allenthalben bei, so
ist er ja überflüssig. Es wird von ihm verlangt, daß er eine eigne Meinung
habe, deshalb ist er ja gewählt! Nörgelt er nicht, so versteht er nichts oder
ist kein "Charakter"! Er ist doch einmal zur Kontrole des Vorstandes bestimmt
und muß seine Ideen zur Geltung zu bringen suchen, sonst "vertritt" er ja die
"Gesellschaft" nicht "statutengemäß" gegen den Absolutismus des Vorstandes!

Die wahrhaft gebildeten zwar halten das neuerdings schon nicht mehr so
recht aus, sie ziehen sich von diesem Treiben nachgewieseuermaßen mehr und
mehr zurück. Desto breiteren Boden gewinnt es aber leider unter der großen
Masse. Mau hat es ja so leicht, von sich reden zu machen, über die Köpfe
andrer scheinbar emporzuragen!

"Bewunderung von Kindern und Affen," darnach steht der Gaumen den
Halb- und Viertelsgebildeten heute noch geradeso wie zu Fausts und Wagners
Zeiten, und da die Welt bekanntlich zum erschreckbar größern Teile aus Phi¬
listern und nur zum sehr kleinen Teile aus Urteilsfähigen besteht, so trifft der
Schade, den derlei Zustände mit sich führen müssen, folgeweise auch den bei
weitem größern Teil der Menschheit.

Müssen wir uns da nun wundern, wenn bei einem solchen, alle Lebens¬
verhältnisse und alle Klassen der Bevölkerung dauernd durchsuchenden After.
koustitutionalismus schließlich das Ergebnis erzeugt wird, daß das Vertrauen
zu jeder Art von Autorität verloren geht? Verdient da nicht einer von vorn¬
herein schon unser Vertraue", wenn er in ernster Stunde von sich sagt, daß
er das Vertrauen zu Autoritäten noch nicht verloren habe?

Wenn das nachwachsende Geschlecht das geschilderte Treiben des zur Zeit
wirkenden und schaffenden Geschlechts täglich in aufdringlichster Weise vor Augen
hat; wenn der Bauernsohn hört, wie der Vater-Ausschußmitglied oder -Kircheu-
vvrstandsmitglied die Maßregeln des Schultheißen oder Superintendenten mit
formeller Vollberechtigung abends bei der Kartoffelsuppe unliebsam kritisirt;
wenn der Schuljunge in der Blüte seiner Flegeljahre mit innigem Vergnügen
Kenntnis davon nimmt, wie der Vater-Schulvorstandsmitglied dem Rektor der


Die Entartung des Konstitutionalismus.

Von der Bedeutung seiner eignen Person in allen möglichen öffentlichen Ange¬
legenheiten bei sich großzieht. Zu tausend Dingen, um die er sich, auf sich
selber und sein Geschäft beschränkt, entweder gar nicht oder nur aufnehmend
bekümmern würde, wird er als hervorbringendes, mitschaffendes und mitbestim¬
mendes Element sozusagen an den Haaren herbeigezogen. Bald soll er als
Mensch im allgemeinen, bald als Christ, bald als Deutscher, bald als Staats¬
bürger, bald als Stadtbürger, als Prvfessionist, als Kunstfreund, als Sports-
man, als — was weiß ich — mit raten, thaten, tagen und nächtigen. Heute
ist er Vorstands- oder Ausschußmitglied hier, morgen Kommissiousmitglied dort,
übermorgen Schriftführer wieder wo anders, und überall soll er kritisiren,
opponiren, vou allem etwas verstehen, vor allen Dingen aber überall dem
Vorstände das Leben sauer machen. Denn stimmt er ihm allenthalben bei, so
ist er ja überflüssig. Es wird von ihm verlangt, daß er eine eigne Meinung
habe, deshalb ist er ja gewählt! Nörgelt er nicht, so versteht er nichts oder
ist kein „Charakter"! Er ist doch einmal zur Kontrole des Vorstandes bestimmt
und muß seine Ideen zur Geltung zu bringen suchen, sonst „vertritt" er ja die
„Gesellschaft" nicht „statutengemäß" gegen den Absolutismus des Vorstandes!

Die wahrhaft gebildeten zwar halten das neuerdings schon nicht mehr so
recht aus, sie ziehen sich von diesem Treiben nachgewieseuermaßen mehr und
mehr zurück. Desto breiteren Boden gewinnt es aber leider unter der großen
Masse. Mau hat es ja so leicht, von sich reden zu machen, über die Köpfe
andrer scheinbar emporzuragen!

„Bewunderung von Kindern und Affen," darnach steht der Gaumen den
Halb- und Viertelsgebildeten heute noch geradeso wie zu Fausts und Wagners
Zeiten, und da die Welt bekanntlich zum erschreckbar größern Teile aus Phi¬
listern und nur zum sehr kleinen Teile aus Urteilsfähigen besteht, so trifft der
Schade, den derlei Zustände mit sich führen müssen, folgeweise auch den bei
weitem größern Teil der Menschheit.

Müssen wir uns da nun wundern, wenn bei einem solchen, alle Lebens¬
verhältnisse und alle Klassen der Bevölkerung dauernd durchsuchenden After.
koustitutionalismus schließlich das Ergebnis erzeugt wird, daß das Vertrauen
zu jeder Art von Autorität verloren geht? Verdient da nicht einer von vorn¬
herein schon unser Vertraue«, wenn er in ernster Stunde von sich sagt, daß
er das Vertrauen zu Autoritäten noch nicht verloren habe?

Wenn das nachwachsende Geschlecht das geschilderte Treiben des zur Zeit
wirkenden und schaffenden Geschlechts täglich in aufdringlichster Weise vor Augen
hat; wenn der Bauernsohn hört, wie der Vater-Ausschußmitglied oder -Kircheu-
vvrstandsmitglied die Maßregeln des Schultheißen oder Superintendenten mit
formeller Vollberechtigung abends bei der Kartoffelsuppe unliebsam kritisirt;
wenn der Schuljunge in der Blüte seiner Flegeljahre mit innigem Vergnügen
Kenntnis davon nimmt, wie der Vater-Schulvorstandsmitglied dem Rektor der


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[0429] Die Entartung des Konstitutionalismus. Von der Bedeutung seiner eignen Person in allen möglichen öffentlichen Ange¬ legenheiten bei sich großzieht. Zu tausend Dingen, um die er sich, auf sich selber und sein Geschäft beschränkt, entweder gar nicht oder nur aufnehmend bekümmern würde, wird er als hervorbringendes, mitschaffendes und mitbestim¬ mendes Element sozusagen an den Haaren herbeigezogen. Bald soll er als Mensch im allgemeinen, bald als Christ, bald als Deutscher, bald als Staats¬ bürger, bald als Stadtbürger, als Prvfessionist, als Kunstfreund, als Sports- man, als — was weiß ich — mit raten, thaten, tagen und nächtigen. Heute ist er Vorstands- oder Ausschußmitglied hier, morgen Kommissiousmitglied dort, übermorgen Schriftführer wieder wo anders, und überall soll er kritisiren, opponiren, vou allem etwas verstehen, vor allen Dingen aber überall dem Vorstände das Leben sauer machen. Denn stimmt er ihm allenthalben bei, so ist er ja überflüssig. Es wird von ihm verlangt, daß er eine eigne Meinung habe, deshalb ist er ja gewählt! Nörgelt er nicht, so versteht er nichts oder ist kein „Charakter"! Er ist doch einmal zur Kontrole des Vorstandes bestimmt und muß seine Ideen zur Geltung zu bringen suchen, sonst „vertritt" er ja die „Gesellschaft" nicht „statutengemäß" gegen den Absolutismus des Vorstandes! Die wahrhaft gebildeten zwar halten das neuerdings schon nicht mehr so recht aus, sie ziehen sich von diesem Treiben nachgewieseuermaßen mehr und mehr zurück. Desto breiteren Boden gewinnt es aber leider unter der großen Masse. Mau hat es ja so leicht, von sich reden zu machen, über die Köpfe andrer scheinbar emporzuragen! „Bewunderung von Kindern und Affen," darnach steht der Gaumen den Halb- und Viertelsgebildeten heute noch geradeso wie zu Fausts und Wagners Zeiten, und da die Welt bekanntlich zum erschreckbar größern Teile aus Phi¬ listern und nur zum sehr kleinen Teile aus Urteilsfähigen besteht, so trifft der Schade, den derlei Zustände mit sich führen müssen, folgeweise auch den bei weitem größern Teil der Menschheit. Müssen wir uns da nun wundern, wenn bei einem solchen, alle Lebens¬ verhältnisse und alle Klassen der Bevölkerung dauernd durchsuchenden After. koustitutionalismus schließlich das Ergebnis erzeugt wird, daß das Vertrauen zu jeder Art von Autorität verloren geht? Verdient da nicht einer von vorn¬ herein schon unser Vertraue«, wenn er in ernster Stunde von sich sagt, daß er das Vertrauen zu Autoritäten noch nicht verloren habe? Wenn das nachwachsende Geschlecht das geschilderte Treiben des zur Zeit wirkenden und schaffenden Geschlechts täglich in aufdringlichster Weise vor Augen hat; wenn der Bauernsohn hört, wie der Vater-Ausschußmitglied oder -Kircheu- vvrstandsmitglied die Maßregeln des Schultheißen oder Superintendenten mit formeller Vollberechtigung abends bei der Kartoffelsuppe unliebsam kritisirt; wenn der Schuljunge in der Blüte seiner Flegeljahre mit innigem Vergnügen Kenntnis davon nimmt, wie der Vater-Schulvorstandsmitglied dem Rektor der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/429>, abgerufen am 17.09.2024.