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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zwei Wiener Romane.

demnach als durchaus berechtigt anerkannt werden. Mehr noch: es können
solche Schilderungen für das geistige Leben dieser Städte geradezu epoche¬
machend werden. Die Wechselwirkung von Kunst und Leben hat noch kein
Mensch in allen ihren Folgen übersehen können. Man sieht es ja in Paris
alle Tage, von welcher Rückwirkung die Romane der großen Schriftsteller auf
die Bevölkerung sind: die Phantasie, welche sich aus dem Leben des Pariser
Volkes den Stoff für ihre romanhaften Gemälde holte, liefert demselben Volke
seine neuen Ideale, seine neuen Anregungen (oft freilich von sehr zweifelhaftem
Werte, was wir hier nicht zu untersuchen haben). Wie Werthers Kostüm eine
Zeit lang Mode in Deutschland wurde, wie Chateaubriands Reus das Ideal
der jungen Männer seiner Zeit wurde, so werden die Redensarten, die Spitz¬
namen, die Thorheiten der Pariser Romanheldinnen Mode beim Pariser Volk.
Es macht immer große Wirkung auf die Menschen, wenn sie sich plötzlich im
Bilde gespiegelt wiederfinden, es ist. als wenn sie sich selbst erst neu entdeckten --
die rein elementare Freude an aller Kunst, welche von Haus aus nichts als
Nachahmung ist. So allein erklärt sich die große Wirkung, welche einzelne
großstädtische Romane bisher bei der Menge der Leser erreicht haben, soviel
auch die Kritik an den Werken mit Recht oder Unrecht auszusetzen gehabt hat.

Auch die Wiener Schriftsteller haben zu wiederholten malen den Versuch
gemacht, das Leben Wiens in Romanform zu schildern. Diese Aufgabe ist eine
wesentlich verschiedne von der der wienerischen Lokalpoesie: sie ist erst durch den
modernen Realismus gestellt worden. Wienerische Poesie ist reich genug und
auch stattlich genug vorhanden: der Hinweis auf die urwienerischen und zugleich
auch nationallitcrarisch bedeutenden Lustspieldichter Bauernfeld und Raimund
dürfte genügen. Allein etwas andres ist eine Poesie, welche den Lokalgeist
eines Landes zum schöpferischen Genius hat, etwas andres ein Roman, welcher
diesen Lokalgeist selbst in allen seinen Erscheinungsformen zu schildern und dar¬
zustellen unternimmt. Ein Wiener Sittenroman, der zugleich ernsthaft litera¬
rischen Wert beanspruchen dürfte, ist unsers Wissens bis auf denjenigen Roman,*)
der uns Anlaß zu der heutigen Besprechung giebt, die Wiener Kinder von
C. Karlweis, noch nicht erschienen.

Nichts ist lehrreicher als die Vergleichung, und die Bedeutung dieses neuen
Romanes wird -- trotz aller seiner Fehler -- durch nichts klarer beleuchtet,
als wenn man ihn mit dem vor einigen Monaten erschienenen Roman
Friedrich Abts: Farben rauhes**) zusammenstellt. Abt hat sich mit glück¬
lichem, aber voreiligen Griff den schönsten Romanstoff gewählt, den das Wiener
Leben der letzten Jahrzehnte überhaupt aufzuweisen hat. Sein "Farbenrausch"
hat die epochemachend wirkungsreiche und glänzende Erscheinung des Malers




*) Wiener Kinder. Ein Roman von C. Karlweis. Stuttgart, Bonz, 1387.
**) Farbenrausch. Roman von Friedrich Abt. Zwei Bände. Berlin, Paetel, 1837
Zwei Wiener Romane.

demnach als durchaus berechtigt anerkannt werden. Mehr noch: es können
solche Schilderungen für das geistige Leben dieser Städte geradezu epoche¬
machend werden. Die Wechselwirkung von Kunst und Leben hat noch kein
Mensch in allen ihren Folgen übersehen können. Man sieht es ja in Paris
alle Tage, von welcher Rückwirkung die Romane der großen Schriftsteller auf
die Bevölkerung sind: die Phantasie, welche sich aus dem Leben des Pariser
Volkes den Stoff für ihre romanhaften Gemälde holte, liefert demselben Volke
seine neuen Ideale, seine neuen Anregungen (oft freilich von sehr zweifelhaftem
Werte, was wir hier nicht zu untersuchen haben). Wie Werthers Kostüm eine
Zeit lang Mode in Deutschland wurde, wie Chateaubriands Reus das Ideal
der jungen Männer seiner Zeit wurde, so werden die Redensarten, die Spitz¬
namen, die Thorheiten der Pariser Romanheldinnen Mode beim Pariser Volk.
Es macht immer große Wirkung auf die Menschen, wenn sie sich plötzlich im
Bilde gespiegelt wiederfinden, es ist. als wenn sie sich selbst erst neu entdeckten —
die rein elementare Freude an aller Kunst, welche von Haus aus nichts als
Nachahmung ist. So allein erklärt sich die große Wirkung, welche einzelne
großstädtische Romane bisher bei der Menge der Leser erreicht haben, soviel
auch die Kritik an den Werken mit Recht oder Unrecht auszusetzen gehabt hat.

Auch die Wiener Schriftsteller haben zu wiederholten malen den Versuch
gemacht, das Leben Wiens in Romanform zu schildern. Diese Aufgabe ist eine
wesentlich verschiedne von der der wienerischen Lokalpoesie: sie ist erst durch den
modernen Realismus gestellt worden. Wienerische Poesie ist reich genug und
auch stattlich genug vorhanden: der Hinweis auf die urwienerischen und zugleich
auch nationallitcrarisch bedeutenden Lustspieldichter Bauernfeld und Raimund
dürfte genügen. Allein etwas andres ist eine Poesie, welche den Lokalgeist
eines Landes zum schöpferischen Genius hat, etwas andres ein Roman, welcher
diesen Lokalgeist selbst in allen seinen Erscheinungsformen zu schildern und dar¬
zustellen unternimmt. Ein Wiener Sittenroman, der zugleich ernsthaft litera¬
rischen Wert beanspruchen dürfte, ist unsers Wissens bis auf denjenigen Roman,*)
der uns Anlaß zu der heutigen Besprechung giebt, die Wiener Kinder von
C. Karlweis, noch nicht erschienen.

Nichts ist lehrreicher als die Vergleichung, und die Bedeutung dieses neuen
Romanes wird — trotz aller seiner Fehler — durch nichts klarer beleuchtet,
als wenn man ihn mit dem vor einigen Monaten erschienenen Roman
Friedrich Abts: Farben rauhes**) zusammenstellt. Abt hat sich mit glück¬
lichem, aber voreiligen Griff den schönsten Romanstoff gewählt, den das Wiener
Leben der letzten Jahrzehnte überhaupt aufzuweisen hat. Sein „Farbenrausch"
hat die epochemachend wirkungsreiche und glänzende Erscheinung des Malers




*) Wiener Kinder. Ein Roman von C. Karlweis. Stuttgart, Bonz, 1387.
**) Farbenrausch. Roman von Friedrich Abt. Zwei Bände. Berlin, Paetel, 1837
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[0042] Zwei Wiener Romane. demnach als durchaus berechtigt anerkannt werden. Mehr noch: es können solche Schilderungen für das geistige Leben dieser Städte geradezu epoche¬ machend werden. Die Wechselwirkung von Kunst und Leben hat noch kein Mensch in allen ihren Folgen übersehen können. Man sieht es ja in Paris alle Tage, von welcher Rückwirkung die Romane der großen Schriftsteller auf die Bevölkerung sind: die Phantasie, welche sich aus dem Leben des Pariser Volkes den Stoff für ihre romanhaften Gemälde holte, liefert demselben Volke seine neuen Ideale, seine neuen Anregungen (oft freilich von sehr zweifelhaftem Werte, was wir hier nicht zu untersuchen haben). Wie Werthers Kostüm eine Zeit lang Mode in Deutschland wurde, wie Chateaubriands Reus das Ideal der jungen Männer seiner Zeit wurde, so werden die Redensarten, die Spitz¬ namen, die Thorheiten der Pariser Romanheldinnen Mode beim Pariser Volk. Es macht immer große Wirkung auf die Menschen, wenn sie sich plötzlich im Bilde gespiegelt wiederfinden, es ist. als wenn sie sich selbst erst neu entdeckten — die rein elementare Freude an aller Kunst, welche von Haus aus nichts als Nachahmung ist. So allein erklärt sich die große Wirkung, welche einzelne großstädtische Romane bisher bei der Menge der Leser erreicht haben, soviel auch die Kritik an den Werken mit Recht oder Unrecht auszusetzen gehabt hat. Auch die Wiener Schriftsteller haben zu wiederholten malen den Versuch gemacht, das Leben Wiens in Romanform zu schildern. Diese Aufgabe ist eine wesentlich verschiedne von der der wienerischen Lokalpoesie: sie ist erst durch den modernen Realismus gestellt worden. Wienerische Poesie ist reich genug und auch stattlich genug vorhanden: der Hinweis auf die urwienerischen und zugleich auch nationallitcrarisch bedeutenden Lustspieldichter Bauernfeld und Raimund dürfte genügen. Allein etwas andres ist eine Poesie, welche den Lokalgeist eines Landes zum schöpferischen Genius hat, etwas andres ein Roman, welcher diesen Lokalgeist selbst in allen seinen Erscheinungsformen zu schildern und dar¬ zustellen unternimmt. Ein Wiener Sittenroman, der zugleich ernsthaft litera¬ rischen Wert beanspruchen dürfte, ist unsers Wissens bis auf denjenigen Roman,*) der uns Anlaß zu der heutigen Besprechung giebt, die Wiener Kinder von C. Karlweis, noch nicht erschienen. Nichts ist lehrreicher als die Vergleichung, und die Bedeutung dieses neuen Romanes wird — trotz aller seiner Fehler — durch nichts klarer beleuchtet, als wenn man ihn mit dem vor einigen Monaten erschienenen Roman Friedrich Abts: Farben rauhes**) zusammenstellt. Abt hat sich mit glück¬ lichem, aber voreiligen Griff den schönsten Romanstoff gewählt, den das Wiener Leben der letzten Jahrzehnte überhaupt aufzuweisen hat. Sein „Farbenrausch" hat die epochemachend wirkungsreiche und glänzende Erscheinung des Malers *) Wiener Kinder. Ein Roman von C. Karlweis. Stuttgart, Bonz, 1387. **) Farbenrausch. Roman von Friedrich Abt. Zwei Bände. Berlin, Paetel, 1837

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/42>, abgerufen am 17.09.2024.