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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Österreich im Frühjahre ^8U.

in Jahre 1869 erschien der erste Band der "Geschichte Öster¬
reichs vom Ausgange des Wiener Oktober-Aufstandes 1848"
von Jos. Alex. Fhrn. v. Heisere; 1886 ist das Werk mit dem
fünften und sechsten Bande zum Abschluß gekommen (Prag,
F. Tempsky). Der vom Verfasser gewählte Titel sagt nicht, bis
M welchem Zeitpunkte die Geschichte fortgeführt werden sollte, doch darf nach
dem Wortlaute wohl vermutet werden, daß ursprünglich Nicht beabsichtigt ge¬
wesen sei, schon mit dem März 1849 abzubrechen, wie es jetzt geschehen ist.
Mehr als zweihundert Druckbogen großen Formates über einen Zeitraum von
kaum fünf Monaten! Freilich hat Heisere in mancher Hinsicht mehr Memoiren
als Geschichte geschrieben. Als Unterstaatssekretär und Mitglied des Reichs¬
tages hat er im Mittelpunkte der politischen Kämpfe gestanden, hat in manchen
Vorgang hinter den Kulissen Einblick gewinnen können, und persönliche Ver¬
bindungen sind ihm gewiß auch nachher zu statten gekommen. Ferner muß an¬
erkannt werden, daß er sich keine Mühe hat verdrießen lassen, die gleichzeitigen
Quellen, von welcher Seite her sie auch fließen mochten, gründlich und un¬
parteiisch auszunutzen. Allein ihm haftet der für einen Geschichtschreiber ver¬
hängnisvolle Fehler an, keinen Fund, keine ihn interessirende Notiz unterdrücken
zu können. Er versetzt sich augenscheinlich gänzlich in die aufgeregte Zeit zurück,
regt sich wieder auf wie damals und erzählt im Eifer die unbedeutendsten
Zwischenfälle auf dem parlamentarischen wie auf dem Kriegstheater, nennt,
charakterisirt, kritisirt oder verteidigt Menschen, die mit Recht längst der Ver¬
gessenheit verfallen sind, und giebt Zeitungsstimmen im Übermaß und Überfluß
zum besten. Der zehnte Teil von dem, was dem Leipziger "Leuchtturm," dem


Grenzboten II. 1337. 44


Österreich im Frühjahre ^8U.

in Jahre 1869 erschien der erste Band der „Geschichte Öster¬
reichs vom Ausgange des Wiener Oktober-Aufstandes 1848"
von Jos. Alex. Fhrn. v. Heisere; 1886 ist das Werk mit dem
fünften und sechsten Bande zum Abschluß gekommen (Prag,
F. Tempsky). Der vom Verfasser gewählte Titel sagt nicht, bis
M welchem Zeitpunkte die Geschichte fortgeführt werden sollte, doch darf nach
dem Wortlaute wohl vermutet werden, daß ursprünglich Nicht beabsichtigt ge¬
wesen sei, schon mit dem März 1849 abzubrechen, wie es jetzt geschehen ist.
Mehr als zweihundert Druckbogen großen Formates über einen Zeitraum von
kaum fünf Monaten! Freilich hat Heisere in mancher Hinsicht mehr Memoiren
als Geschichte geschrieben. Als Unterstaatssekretär und Mitglied des Reichs¬
tages hat er im Mittelpunkte der politischen Kämpfe gestanden, hat in manchen
Vorgang hinter den Kulissen Einblick gewinnen können, und persönliche Ver¬
bindungen sind ihm gewiß auch nachher zu statten gekommen. Ferner muß an¬
erkannt werden, daß er sich keine Mühe hat verdrießen lassen, die gleichzeitigen
Quellen, von welcher Seite her sie auch fließen mochten, gründlich und un¬
parteiisch auszunutzen. Allein ihm haftet der für einen Geschichtschreiber ver¬
hängnisvolle Fehler an, keinen Fund, keine ihn interessirende Notiz unterdrücken
zu können. Er versetzt sich augenscheinlich gänzlich in die aufgeregte Zeit zurück,
regt sich wieder auf wie damals und erzählt im Eifer die unbedeutendsten
Zwischenfälle auf dem parlamentarischen wie auf dem Kriegstheater, nennt,
charakterisirt, kritisirt oder verteidigt Menschen, die mit Recht längst der Ver¬
gessenheit verfallen sind, und giebt Zeitungsstimmen im Übermaß und Überfluß
zum besten. Der zehnte Teil von dem, was dem Leipziger „Leuchtturm," dem


Grenzboten II. 1337. 44
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[0353] [Abbildung] Österreich im Frühjahre ^8U. in Jahre 1869 erschien der erste Band der „Geschichte Öster¬ reichs vom Ausgange des Wiener Oktober-Aufstandes 1848" von Jos. Alex. Fhrn. v. Heisere; 1886 ist das Werk mit dem fünften und sechsten Bande zum Abschluß gekommen (Prag, F. Tempsky). Der vom Verfasser gewählte Titel sagt nicht, bis M welchem Zeitpunkte die Geschichte fortgeführt werden sollte, doch darf nach dem Wortlaute wohl vermutet werden, daß ursprünglich Nicht beabsichtigt ge¬ wesen sei, schon mit dem März 1849 abzubrechen, wie es jetzt geschehen ist. Mehr als zweihundert Druckbogen großen Formates über einen Zeitraum von kaum fünf Monaten! Freilich hat Heisere in mancher Hinsicht mehr Memoiren als Geschichte geschrieben. Als Unterstaatssekretär und Mitglied des Reichs¬ tages hat er im Mittelpunkte der politischen Kämpfe gestanden, hat in manchen Vorgang hinter den Kulissen Einblick gewinnen können, und persönliche Ver¬ bindungen sind ihm gewiß auch nachher zu statten gekommen. Ferner muß an¬ erkannt werden, daß er sich keine Mühe hat verdrießen lassen, die gleichzeitigen Quellen, von welcher Seite her sie auch fließen mochten, gründlich und un¬ parteiisch auszunutzen. Allein ihm haftet der für einen Geschichtschreiber ver¬ hängnisvolle Fehler an, keinen Fund, keine ihn interessirende Notiz unterdrücken zu können. Er versetzt sich augenscheinlich gänzlich in die aufgeregte Zeit zurück, regt sich wieder auf wie damals und erzählt im Eifer die unbedeutendsten Zwischenfälle auf dem parlamentarischen wie auf dem Kriegstheater, nennt, charakterisirt, kritisirt oder verteidigt Menschen, die mit Recht längst der Ver¬ gessenheit verfallen sind, und giebt Zeitungsstimmen im Übermaß und Überfluß zum besten. Der zehnte Teil von dem, was dem Leipziger „Leuchtturm," dem Grenzboten II. 1337. 44

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/353>, abgerufen am 17.09.2024.