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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neue Goethe-Studien.

kritischen Tagesarbeiten verdunkelt worden ist. Scherer sagt: "Ich bekämpfe,
wo ich kann, die rohe Ansicht, als ob Rezensionen für den Tag geschrieben
würden und nur bestimmt seien, dem Publikum möglichst rasch und deutlich zu
sagen, ob es ein neu erschienenes Buch abscheulich oder hübsch finden solle;
vollends für Rezensionen, welche Menschen ärgern oder herabsetzen oder gar
einen unbeteiligten Dritten verdrießen sollen, fehlt mir der Sinn. Auch Rezen¬
sionen haben eine Kunstform. Auch Rezensionen können eine Menschenseele
spiegeln. Auch Rezensionen dürfen den Anspruch erheben, dauernde und wert¬
volle Besitztümer der Nationalliteratur zu werden, wenn sie aus reiner Gesinnung
fließen, wenn sie im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit geschrieben sind,
wenn ihre Verfasser eigne Gedanken verraten, der Sprache einen neuen Ton
ablauschen und den bewundernden Verstand oder das willige Gemüt des Lesers
zu rühren wissen." Viele dieser Schererscheu Aufsätze sind nichts als Rezen¬
sionen, wie z. B. gleich der erste Aufsatz "Goethephilologie," der dieses viel¬
gescholtene Wort in tiefsinniger Weise gelegentlich eiuer kritischen Übersicht über
neuere Werke aus der Goetheliteratur erklärt. Aber wenn man von irgend
einer Rezension sagen darf, daß sie die Nativnallitemtur bereichere, so muß
man es von diesen Aufsätze" Scherers sagen, und Erich Schmidt hat sich ein
Verdienst dnrch deren Sammlung aus dem Nachlaß des leider so früh dahin¬
gegangenen erworben.

Und nun zu dem Versuche Otto Harnacks. Die Zusammenfassung einzelner
Teile der Goethischen Anschauungen, z. B. seiner naturwissenschaftlichen Ideen,
ist schon vielfach versucht worden. Harnacks spezielles Verdienst liegt darin,
die Gesamtheit der Goethischen Weltbetrachtung zu einem organischen Ganzen
geordnet zu haben. Das ist, unsers Wissens, noch nicht in der Art angestrebt
worden. Es war keine Kleinigkeit, die weit zerstreuten Bemerkungen, Sprüche
und Abhandlungen in dieser Weise zu ordnen, denn Goethe haßte derartige
Systematik. Es bedürfte auch überall vielen Feingefühls, um Äußerungen
vorübergehender Stimmungen von bleibenden Überzeugungen zu sondern, gleich¬
sam einen Durchschnitt herzustellen. Das alles hat Harnack geleistet und wie
in einem wissenschaftlichen Shstem eine Erkenntnistheorie, eine Ethik, Physik,
Ästhetik (Theorie, Geschichte, Ausübung) und eine Politik (Urteile, Konstruktionen)
Goethes aufgebaut. Aber das Bedeutendste dieses Versuches liegt darin, daß
sich Harnack jedes Zwanges enthalten, daß er, mit dem vollen Verständnis für
die uuter alleu Umständen dichterisch denkende und fühlende Persönlichkeit
Goethes, uus den unbewußt einheitlichen Zusammenhang aller seiner An¬
schauungen nachgewiesen hat, und gleich in der "Grundlage Goethischer Denk¬
weise" den rechten Ausgangspunkt getroffen hat. "Zunächst ist festzustellen
1^ sagt er --, daß Goethe einem jeden Versuche, die Summe menschlicher Er-
enntnis in das Ganze eines logisch aufgebauten Systems zu fassen, grund-
latzlich vollbcwußt mit unüberwindlicher Skepsis gegenüberstand. Nach


Neue Goethe-Studien.

kritischen Tagesarbeiten verdunkelt worden ist. Scherer sagt: „Ich bekämpfe,
wo ich kann, die rohe Ansicht, als ob Rezensionen für den Tag geschrieben
würden und nur bestimmt seien, dem Publikum möglichst rasch und deutlich zu
sagen, ob es ein neu erschienenes Buch abscheulich oder hübsch finden solle;
vollends für Rezensionen, welche Menschen ärgern oder herabsetzen oder gar
einen unbeteiligten Dritten verdrießen sollen, fehlt mir der Sinn. Auch Rezen¬
sionen haben eine Kunstform. Auch Rezensionen können eine Menschenseele
spiegeln. Auch Rezensionen dürfen den Anspruch erheben, dauernde und wert¬
volle Besitztümer der Nationalliteratur zu werden, wenn sie aus reiner Gesinnung
fließen, wenn sie im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit geschrieben sind,
wenn ihre Verfasser eigne Gedanken verraten, der Sprache einen neuen Ton
ablauschen und den bewundernden Verstand oder das willige Gemüt des Lesers
zu rühren wissen." Viele dieser Schererscheu Aufsätze sind nichts als Rezen¬
sionen, wie z. B. gleich der erste Aufsatz „Goethephilologie," der dieses viel¬
gescholtene Wort in tiefsinniger Weise gelegentlich eiuer kritischen Übersicht über
neuere Werke aus der Goetheliteratur erklärt. Aber wenn man von irgend
einer Rezension sagen darf, daß sie die Nativnallitemtur bereichere, so muß
man es von diesen Aufsätze» Scherers sagen, und Erich Schmidt hat sich ein
Verdienst dnrch deren Sammlung aus dem Nachlaß des leider so früh dahin¬
gegangenen erworben.

Und nun zu dem Versuche Otto Harnacks. Die Zusammenfassung einzelner
Teile der Goethischen Anschauungen, z. B. seiner naturwissenschaftlichen Ideen,
ist schon vielfach versucht worden. Harnacks spezielles Verdienst liegt darin,
die Gesamtheit der Goethischen Weltbetrachtung zu einem organischen Ganzen
geordnet zu haben. Das ist, unsers Wissens, noch nicht in der Art angestrebt
worden. Es war keine Kleinigkeit, die weit zerstreuten Bemerkungen, Sprüche
und Abhandlungen in dieser Weise zu ordnen, denn Goethe haßte derartige
Systematik. Es bedürfte auch überall vielen Feingefühls, um Äußerungen
vorübergehender Stimmungen von bleibenden Überzeugungen zu sondern, gleich¬
sam einen Durchschnitt herzustellen. Das alles hat Harnack geleistet und wie
in einem wissenschaftlichen Shstem eine Erkenntnistheorie, eine Ethik, Physik,
Ästhetik (Theorie, Geschichte, Ausübung) und eine Politik (Urteile, Konstruktionen)
Goethes aufgebaut. Aber das Bedeutendste dieses Versuches liegt darin, daß
sich Harnack jedes Zwanges enthalten, daß er, mit dem vollen Verständnis für
die uuter alleu Umständen dichterisch denkende und fühlende Persönlichkeit
Goethes, uus den unbewußt einheitlichen Zusammenhang aller seiner An¬
schauungen nachgewiesen hat, und gleich in der „Grundlage Goethischer Denk¬
weise" den rechten Ausgangspunkt getroffen hat. „Zunächst ist festzustellen
1^ sagt er —, daß Goethe einem jeden Versuche, die Summe menschlicher Er-
enntnis in das Ganze eines logisch aufgebauten Systems zu fassen, grund-
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[0285] Neue Goethe-Studien. kritischen Tagesarbeiten verdunkelt worden ist. Scherer sagt: „Ich bekämpfe, wo ich kann, die rohe Ansicht, als ob Rezensionen für den Tag geschrieben würden und nur bestimmt seien, dem Publikum möglichst rasch und deutlich zu sagen, ob es ein neu erschienenes Buch abscheulich oder hübsch finden solle; vollends für Rezensionen, welche Menschen ärgern oder herabsetzen oder gar einen unbeteiligten Dritten verdrießen sollen, fehlt mir der Sinn. Auch Rezen¬ sionen haben eine Kunstform. Auch Rezensionen können eine Menschenseele spiegeln. Auch Rezensionen dürfen den Anspruch erheben, dauernde und wert¬ volle Besitztümer der Nationalliteratur zu werden, wenn sie aus reiner Gesinnung fließen, wenn sie im Dienste der Wahrheit und Gerechtigkeit geschrieben sind, wenn ihre Verfasser eigne Gedanken verraten, der Sprache einen neuen Ton ablauschen und den bewundernden Verstand oder das willige Gemüt des Lesers zu rühren wissen." Viele dieser Schererscheu Aufsätze sind nichts als Rezen¬ sionen, wie z. B. gleich der erste Aufsatz „Goethephilologie," der dieses viel¬ gescholtene Wort in tiefsinniger Weise gelegentlich eiuer kritischen Übersicht über neuere Werke aus der Goetheliteratur erklärt. Aber wenn man von irgend einer Rezension sagen darf, daß sie die Nativnallitemtur bereichere, so muß man es von diesen Aufsätze» Scherers sagen, und Erich Schmidt hat sich ein Verdienst dnrch deren Sammlung aus dem Nachlaß des leider so früh dahin¬ gegangenen erworben. Und nun zu dem Versuche Otto Harnacks. Die Zusammenfassung einzelner Teile der Goethischen Anschauungen, z. B. seiner naturwissenschaftlichen Ideen, ist schon vielfach versucht worden. Harnacks spezielles Verdienst liegt darin, die Gesamtheit der Goethischen Weltbetrachtung zu einem organischen Ganzen geordnet zu haben. Das ist, unsers Wissens, noch nicht in der Art angestrebt worden. Es war keine Kleinigkeit, die weit zerstreuten Bemerkungen, Sprüche und Abhandlungen in dieser Weise zu ordnen, denn Goethe haßte derartige Systematik. Es bedürfte auch überall vielen Feingefühls, um Äußerungen vorübergehender Stimmungen von bleibenden Überzeugungen zu sondern, gleich¬ sam einen Durchschnitt herzustellen. Das alles hat Harnack geleistet und wie in einem wissenschaftlichen Shstem eine Erkenntnistheorie, eine Ethik, Physik, Ästhetik (Theorie, Geschichte, Ausübung) und eine Politik (Urteile, Konstruktionen) Goethes aufgebaut. Aber das Bedeutendste dieses Versuches liegt darin, daß sich Harnack jedes Zwanges enthalten, daß er, mit dem vollen Verständnis für die uuter alleu Umständen dichterisch denkende und fühlende Persönlichkeit Goethes, uus den unbewußt einheitlichen Zusammenhang aller seiner An¬ schauungen nachgewiesen hat, und gleich in der „Grundlage Goethischer Denk¬ weise" den rechten Ausgangspunkt getroffen hat. „Zunächst ist festzustellen 1^ sagt er —, daß Goethe einem jeden Versuche, die Summe menschlicher Er- enntnis in das Ganze eines logisch aufgebauten Systems zu fassen, grund- latzlich vollbcwußt mit unüberwindlicher Skepsis gegenüberstand. Nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/285>, abgerufen am 17.09.2024.