Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Goethe-Studien.

sein Fleiß, sein Scharfsinn und sein taktvoller Geschmack verdienen, so läßt sich
nicht bestreikn, daß Scherers Studien auf ungleich höhern literarischen Wert
Anspruch erheben dürfen.

Scherer hat in der That in seiner auf die Prinzipien dringenden Weise
die wissenschaftlichen Folgerungen aus dem seltenen Glück zu ziehen gestrebt,
welches sich in dem reichen biographischen Material der historischen Wissenschaft
geboten hat. Wir auch glauben, wie viele seiner Freunde, nicht, daß er mit
seinen Versuchen, Goethische Entwürfe zu unvollendeten Dramen (Nausikaa,
Iphigenie auf Delphi) fortzudichten, auf dem rechten wissenschaftlichen Wege
war; gerade damit überschritt er seinen eignen streng empirischen Begriff von
der Aufgabe der Wistenschast. Er ist übrigens aufrichtig genug, in solchen
Untersuchungen mit Nachdruck den hypothetischen Ton hervorzukehren. Allein
so wie er an einer andern Stelle ("Bemerkungen über Goethes Stella") die
Bestrebungen seiner Goethestudien darlegt, wird man keine Einwendungen gegen
seine wissenschaftlichen Absichten erheben können. Er sagt: "Wenn ich in Ge¬
spräch oder Schrift gewagt habe. Untersuchungen, wie die von Urlichs ange¬
stellten, ihrem Gang und ihren Ergebnissen nach mitzuteilen -- wenn ich es
wagte. Beziehungen aufzusuchen zwischen den Werken eines Dichters und seinen
Erlebnissen - wenn ich auf die Ähnlichkeiten hinwies, welche zwischen ver-
schiednen Behandlungen desselben oder eines ähnlichen Stoffes obwalteten --
wenn ich auf verwandte und darum vermutlich entlehnte, durch bewußte oder
unbewußte Reminiszenz unzweifelhaft zusammenhängende Charaktere, Situationen.
Motive aufmerksam machte -- kurz, wenn ich die Quellen eines dichterischen
Werkes im umfassendsten Sinne nach Leben und Bildung des Autors zu be¬
stimme" suchte: fo habe ich dabei in der Regel die wunderlichsten Erfahrungen
gemacht; ich habe mir von den produktiven Geistern ziemlich grob sagen lassen
müssen, ich verstünde nichts von der Sache; ich habe aber auch von weniger
unmittelbar beteiligten, von Gelehrten wie von Umgekehrten, von nahen Fach¬
genossen wie von unbefangenen Damen eine Einwendung regelmäßig gehört:
solche Untersuchungen seien ganz schön, aber man könne darin auch leicht zu
weit gehen, man müsse vorsichtig sich an das streng Beweisbare halten u. s. w.
Derlei Einwendungen sind ebenso wohlfeil wie oberflächlich. Sie werden von
vielen in aller Unschuld und Bescheidenheit, von andern mit der Miene über¬
legner Weisheit angebracht. Aber die sogenannte Vorsicht ist eine von den
widerlichsten Gelehrtenuntugenden, mit der Feigheit recht innig verwandt. Der
mitleidig anerkennende Ton, mit welchem man tieferes Eindringen in das dich¬
terische Geschäft halb zuläßt, halb abweist, ist eine thörichte Anmaßung gedanken¬
loser Menschen, welche nicht wissen oder wissen wollen, daß an solchen Unter¬
suchungen die große Fundameutalfrage hängt: ob die allgemeine Gesetzmäßigkeit
der Natur sich auch auf die poetischen Produktionen erstreckt, oder ob für die
Willkür der Phantasie eine Ausnahmestelle im Weltplane offen gehalten ist."


Neue Goethe-Studien.

sein Fleiß, sein Scharfsinn und sein taktvoller Geschmack verdienen, so läßt sich
nicht bestreikn, daß Scherers Studien auf ungleich höhern literarischen Wert
Anspruch erheben dürfen.

Scherer hat in der That in seiner auf die Prinzipien dringenden Weise
die wissenschaftlichen Folgerungen aus dem seltenen Glück zu ziehen gestrebt,
welches sich in dem reichen biographischen Material der historischen Wissenschaft
geboten hat. Wir auch glauben, wie viele seiner Freunde, nicht, daß er mit
seinen Versuchen, Goethische Entwürfe zu unvollendeten Dramen (Nausikaa,
Iphigenie auf Delphi) fortzudichten, auf dem rechten wissenschaftlichen Wege
war; gerade damit überschritt er seinen eignen streng empirischen Begriff von
der Aufgabe der Wistenschast. Er ist übrigens aufrichtig genug, in solchen
Untersuchungen mit Nachdruck den hypothetischen Ton hervorzukehren. Allein
so wie er an einer andern Stelle („Bemerkungen über Goethes Stella") die
Bestrebungen seiner Goethestudien darlegt, wird man keine Einwendungen gegen
seine wissenschaftlichen Absichten erheben können. Er sagt: „Wenn ich in Ge¬
spräch oder Schrift gewagt habe. Untersuchungen, wie die von Urlichs ange¬
stellten, ihrem Gang und ihren Ergebnissen nach mitzuteilen — wenn ich es
wagte. Beziehungen aufzusuchen zwischen den Werken eines Dichters und seinen
Erlebnissen - wenn ich auf die Ähnlichkeiten hinwies, welche zwischen ver-
schiednen Behandlungen desselben oder eines ähnlichen Stoffes obwalteten —
wenn ich auf verwandte und darum vermutlich entlehnte, durch bewußte oder
unbewußte Reminiszenz unzweifelhaft zusammenhängende Charaktere, Situationen.
Motive aufmerksam machte — kurz, wenn ich die Quellen eines dichterischen
Werkes im umfassendsten Sinne nach Leben und Bildung des Autors zu be¬
stimme» suchte: fo habe ich dabei in der Regel die wunderlichsten Erfahrungen
gemacht; ich habe mir von den produktiven Geistern ziemlich grob sagen lassen
müssen, ich verstünde nichts von der Sache; ich habe aber auch von weniger
unmittelbar beteiligten, von Gelehrten wie von Umgekehrten, von nahen Fach¬
genossen wie von unbefangenen Damen eine Einwendung regelmäßig gehört:
solche Untersuchungen seien ganz schön, aber man könne darin auch leicht zu
weit gehen, man müsse vorsichtig sich an das streng Beweisbare halten u. s. w.
Derlei Einwendungen sind ebenso wohlfeil wie oberflächlich. Sie werden von
vielen in aller Unschuld und Bescheidenheit, von andern mit der Miene über¬
legner Weisheit angebracht. Aber die sogenannte Vorsicht ist eine von den
widerlichsten Gelehrtenuntugenden, mit der Feigheit recht innig verwandt. Der
mitleidig anerkennende Ton, mit welchem man tieferes Eindringen in das dich¬
terische Geschäft halb zuläßt, halb abweist, ist eine thörichte Anmaßung gedanken¬
loser Menschen, welche nicht wissen oder wissen wollen, daß an solchen Unter¬
suchungen die große Fundameutalfrage hängt: ob die allgemeine Gesetzmäßigkeit
der Natur sich auch auf die poetischen Produktionen erstreckt, oder ob für die
Willkür der Phantasie eine Ausnahmestelle im Weltplane offen gehalten ist."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0283" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288736"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Goethe-Studien.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_846" prev="#ID_845"> sein Fleiß, sein Scharfsinn und sein taktvoller Geschmack verdienen, so läßt sich<lb/>
nicht bestreikn, daß Scherers Studien auf ungleich höhern literarischen Wert<lb/>
Anspruch erheben dürfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_847"> Scherer hat in der That in seiner auf die Prinzipien dringenden Weise<lb/>
die wissenschaftlichen Folgerungen aus dem seltenen Glück zu ziehen gestrebt,<lb/>
welches sich in dem reichen biographischen Material der historischen Wissenschaft<lb/>
geboten hat. Wir auch glauben, wie viele seiner Freunde, nicht, daß er mit<lb/>
seinen Versuchen, Goethische Entwürfe zu unvollendeten Dramen (Nausikaa,<lb/>
Iphigenie auf Delphi) fortzudichten, auf dem rechten wissenschaftlichen Wege<lb/>
war; gerade damit überschritt er seinen eignen streng empirischen Begriff von<lb/>
der Aufgabe der Wistenschast. Er ist übrigens aufrichtig genug, in solchen<lb/>
Untersuchungen mit Nachdruck den hypothetischen Ton hervorzukehren. Allein<lb/>
so wie er an einer andern Stelle (&#x201E;Bemerkungen über Goethes Stella") die<lb/>
Bestrebungen seiner Goethestudien darlegt, wird man keine Einwendungen gegen<lb/>
seine wissenschaftlichen Absichten erheben können. Er sagt: &#x201E;Wenn ich in Ge¬<lb/>
spräch oder Schrift gewagt habe. Untersuchungen, wie die von Urlichs ange¬<lb/>
stellten, ihrem Gang und ihren Ergebnissen nach mitzuteilen &#x2014; wenn ich es<lb/>
wagte. Beziehungen aufzusuchen zwischen den Werken eines Dichters und seinen<lb/>
Erlebnissen - wenn ich auf die Ähnlichkeiten hinwies, welche zwischen ver-<lb/>
schiednen Behandlungen desselben oder eines ähnlichen Stoffes obwalteten &#x2014;<lb/>
wenn ich auf verwandte und darum vermutlich entlehnte, durch bewußte oder<lb/>
unbewußte Reminiszenz unzweifelhaft zusammenhängende Charaktere, Situationen.<lb/>
Motive aufmerksam machte &#x2014; kurz, wenn ich die Quellen eines dichterischen<lb/>
Werkes im umfassendsten Sinne nach Leben und Bildung des Autors zu be¬<lb/>
stimme» suchte: fo habe ich dabei in der Regel die wunderlichsten Erfahrungen<lb/>
gemacht; ich habe mir von den produktiven Geistern ziemlich grob sagen lassen<lb/>
müssen, ich verstünde nichts von der Sache; ich habe aber auch von weniger<lb/>
unmittelbar beteiligten, von Gelehrten wie von Umgekehrten, von nahen Fach¬<lb/>
genossen wie von unbefangenen Damen eine Einwendung regelmäßig gehört:<lb/>
solche Untersuchungen seien ganz schön, aber man könne darin auch leicht zu<lb/>
weit gehen, man müsse vorsichtig sich an das streng Beweisbare halten u. s. w.<lb/>
Derlei Einwendungen sind ebenso wohlfeil wie oberflächlich. Sie werden von<lb/>
vielen in aller Unschuld und Bescheidenheit, von andern mit der Miene über¬<lb/>
legner Weisheit angebracht. Aber die sogenannte Vorsicht ist eine von den<lb/>
widerlichsten Gelehrtenuntugenden, mit der Feigheit recht innig verwandt. Der<lb/>
mitleidig anerkennende Ton, mit welchem man tieferes Eindringen in das dich¬<lb/>
terische Geschäft halb zuläßt, halb abweist, ist eine thörichte Anmaßung gedanken¬<lb/>
loser Menschen, welche nicht wissen oder wissen wollen, daß an solchen Unter¬<lb/>
suchungen die große Fundameutalfrage hängt: ob die allgemeine Gesetzmäßigkeit<lb/>
der Natur sich auch auf die poetischen Produktionen erstreckt, oder ob für die<lb/>
Willkür der Phantasie eine Ausnahmestelle im Weltplane offen gehalten ist."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0283] Neue Goethe-Studien. sein Fleiß, sein Scharfsinn und sein taktvoller Geschmack verdienen, so läßt sich nicht bestreikn, daß Scherers Studien auf ungleich höhern literarischen Wert Anspruch erheben dürfen. Scherer hat in der That in seiner auf die Prinzipien dringenden Weise die wissenschaftlichen Folgerungen aus dem seltenen Glück zu ziehen gestrebt, welches sich in dem reichen biographischen Material der historischen Wissenschaft geboten hat. Wir auch glauben, wie viele seiner Freunde, nicht, daß er mit seinen Versuchen, Goethische Entwürfe zu unvollendeten Dramen (Nausikaa, Iphigenie auf Delphi) fortzudichten, auf dem rechten wissenschaftlichen Wege war; gerade damit überschritt er seinen eignen streng empirischen Begriff von der Aufgabe der Wistenschast. Er ist übrigens aufrichtig genug, in solchen Untersuchungen mit Nachdruck den hypothetischen Ton hervorzukehren. Allein so wie er an einer andern Stelle („Bemerkungen über Goethes Stella") die Bestrebungen seiner Goethestudien darlegt, wird man keine Einwendungen gegen seine wissenschaftlichen Absichten erheben können. Er sagt: „Wenn ich in Ge¬ spräch oder Schrift gewagt habe. Untersuchungen, wie die von Urlichs ange¬ stellten, ihrem Gang und ihren Ergebnissen nach mitzuteilen — wenn ich es wagte. Beziehungen aufzusuchen zwischen den Werken eines Dichters und seinen Erlebnissen - wenn ich auf die Ähnlichkeiten hinwies, welche zwischen ver- schiednen Behandlungen desselben oder eines ähnlichen Stoffes obwalteten — wenn ich auf verwandte und darum vermutlich entlehnte, durch bewußte oder unbewußte Reminiszenz unzweifelhaft zusammenhängende Charaktere, Situationen. Motive aufmerksam machte — kurz, wenn ich die Quellen eines dichterischen Werkes im umfassendsten Sinne nach Leben und Bildung des Autors zu be¬ stimme» suchte: fo habe ich dabei in der Regel die wunderlichsten Erfahrungen gemacht; ich habe mir von den produktiven Geistern ziemlich grob sagen lassen müssen, ich verstünde nichts von der Sache; ich habe aber auch von weniger unmittelbar beteiligten, von Gelehrten wie von Umgekehrten, von nahen Fach¬ genossen wie von unbefangenen Damen eine Einwendung regelmäßig gehört: solche Untersuchungen seien ganz schön, aber man könne darin auch leicht zu weit gehen, man müsse vorsichtig sich an das streng Beweisbare halten u. s. w. Derlei Einwendungen sind ebenso wohlfeil wie oberflächlich. Sie werden von vielen in aller Unschuld und Bescheidenheit, von andern mit der Miene über¬ legner Weisheit angebracht. Aber die sogenannte Vorsicht ist eine von den widerlichsten Gelehrtenuntugenden, mit der Feigheit recht innig verwandt. Der mitleidig anerkennende Ton, mit welchem man tieferes Eindringen in das dich¬ terische Geschäft halb zuläßt, halb abweist, ist eine thörichte Anmaßung gedanken¬ loser Menschen, welche nicht wissen oder wissen wollen, daß an solchen Unter¬ suchungen die große Fundameutalfrage hängt: ob die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur sich auch auf die poetischen Produktionen erstreckt, oder ob für die Willkür der Phantasie eine Ausnahmestelle im Weltplane offen gehalten ist."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/283
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/283>, abgerufen am 17.09.2024.