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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich von Gentz,

oder 1688. Die Nation hat Napoleon anerkannt, auch alle andern, England
zufälligerweise ausgenommen, ebenso wiederholt als freiwillig."

Man traut seinen Augen nicht, wenn man diese Zeilen liest. So waren
die Gedanken, welche einst das ganze Wesen des Mannes beherrscht hatten, wie
ausgelöscht aus seiner Seele, selbst die Erinnerung, daß er sie einmal gehegt
hatte, war aus ihr verschwunden. In welchen Ausdrücken hatte er einst über
die Machthaber von 1793, über Napoleon, als er den Kaisertitel annahm, den
Stab gebrochen! Es giebt einen unveröffentlichten Brief an Brinkmann aus
dem Jahre 1804, der sich in förmlichen Wutausbrüchen über die Usurpation
Napoleons und die schmachvolle Feigheit Europas, die sie so ruhig hinnahm,
ergeht. Und nun! Nun findet er den Mißbrauch der Gewalt, den Napoleon
nach außen geübt, vollständig gesühnt. Im Innern aber habe er "keinen Richter
auf Erden." "Wenn die oberste Gewalt in unerträgliche Tyrannei ausartet,
alle göttlichen und menschlichen Gesetze verschmäht und zuletzt in einem Aus¬
bruch von Erbitterung des von ihr selbst aufs höchste gereizten Volkes ihren
wohlverdienten Untergang findet, so ist es einem unbefangenen Beschauer er¬
laubt, die Katastrophe wie eine Naturbegebenheit zu betrachten, sie zu erklären,
sie auf ihre Gründe zurückzuführen, sie zur Lehre und Warnung aufzustellen,
sie sogar zu entschuldigen, nur niemals sie zu rechtfertigen. Ein anerkanntes
Recht zur Rebellion ist ein Prinzip des Todes für die gesellschaftliche Ver¬
fassung."

Welches praktische Ergebnis haben aber diese Folgerungen für ihn? Weder
die französische Nation selbst noch die verbündeten Mächte -- mit Ausnahme
Englands -- haben das Recht, Napoleon abzusetzen, sehr wohl aber können sie
ihn trotz des Willens der Franzosen ans seinem Thron erhalten. staatsrecht¬
lich steht dies für Gentz, wie er sagt, ganz sicher. Nur vom politischen Stand¬
punkte wagt er nicht so entschieden zu sprechen. Doch scheint ihn zum mindesten
Österreichs und Preußens Interesse gegen die Bourbonen zu spreche", denn die
Unabhängigkeit beider fordere, daß zwischen Rußland und Frankreich keine An¬
näherung stattfinde. Dieser Grundsatz, den Metternich selbst früher aufgestellt
habe, sei für ihn jetzt der Hauptpunkt in dem ganzen System der jetzigen
Politik. Daß Napoleon nach den Erfahrungen des letzten Jahres dem euro¬
päischen Gleichgewicht "och einmal gefährlich werden könnte, giebt er nicht zu;
er bezeichnet es "als die Quelle aller großen Irrtümer -- und also auch aller
großen Leiden der Zeit" --, daß man sich gar nie die Frage aufgeworfen habe,
ob man denn mit Napoleon nicht auskomme", nicht politisch mit ihm leben
könne, und daß man ihn entweder wie einen Halbgott oder wie ein Ungeheuer
und bisweilen wie beides zugleich angesehen habe.

Die Halsstarrigkeit Napoleons in allen den Friedensverha"ti"ngen, die
während des Winters von 1814 angeknüpft wurden, zwangen Gentz, sich endlich
doch anch umzudenken. Nach dem Abbruch der Verhandlungen von ClMillon


Friedrich von Gentz,

oder 1688. Die Nation hat Napoleon anerkannt, auch alle andern, England
zufälligerweise ausgenommen, ebenso wiederholt als freiwillig."

Man traut seinen Augen nicht, wenn man diese Zeilen liest. So waren
die Gedanken, welche einst das ganze Wesen des Mannes beherrscht hatten, wie
ausgelöscht aus seiner Seele, selbst die Erinnerung, daß er sie einmal gehegt
hatte, war aus ihr verschwunden. In welchen Ausdrücken hatte er einst über
die Machthaber von 1793, über Napoleon, als er den Kaisertitel annahm, den
Stab gebrochen! Es giebt einen unveröffentlichten Brief an Brinkmann aus
dem Jahre 1804, der sich in förmlichen Wutausbrüchen über die Usurpation
Napoleons und die schmachvolle Feigheit Europas, die sie so ruhig hinnahm,
ergeht. Und nun! Nun findet er den Mißbrauch der Gewalt, den Napoleon
nach außen geübt, vollständig gesühnt. Im Innern aber habe er „keinen Richter
auf Erden." „Wenn die oberste Gewalt in unerträgliche Tyrannei ausartet,
alle göttlichen und menschlichen Gesetze verschmäht und zuletzt in einem Aus¬
bruch von Erbitterung des von ihr selbst aufs höchste gereizten Volkes ihren
wohlverdienten Untergang findet, so ist es einem unbefangenen Beschauer er¬
laubt, die Katastrophe wie eine Naturbegebenheit zu betrachten, sie zu erklären,
sie auf ihre Gründe zurückzuführen, sie zur Lehre und Warnung aufzustellen,
sie sogar zu entschuldigen, nur niemals sie zu rechtfertigen. Ein anerkanntes
Recht zur Rebellion ist ein Prinzip des Todes für die gesellschaftliche Ver¬
fassung."

Welches praktische Ergebnis haben aber diese Folgerungen für ihn? Weder
die französische Nation selbst noch die verbündeten Mächte — mit Ausnahme
Englands — haben das Recht, Napoleon abzusetzen, sehr wohl aber können sie
ihn trotz des Willens der Franzosen ans seinem Thron erhalten. staatsrecht¬
lich steht dies für Gentz, wie er sagt, ganz sicher. Nur vom politischen Stand¬
punkte wagt er nicht so entschieden zu sprechen. Doch scheint ihn zum mindesten
Österreichs und Preußens Interesse gegen die Bourbonen zu spreche», denn die
Unabhängigkeit beider fordere, daß zwischen Rußland und Frankreich keine An¬
näherung stattfinde. Dieser Grundsatz, den Metternich selbst früher aufgestellt
habe, sei für ihn jetzt der Hauptpunkt in dem ganzen System der jetzigen
Politik. Daß Napoleon nach den Erfahrungen des letzten Jahres dem euro¬
päischen Gleichgewicht »och einmal gefährlich werden könnte, giebt er nicht zu;
er bezeichnet es „als die Quelle aller großen Irrtümer — und also auch aller
großen Leiden der Zeit" —, daß man sich gar nie die Frage aufgeworfen habe,
ob man denn mit Napoleon nicht auskomme», nicht politisch mit ihm leben
könne, und daß man ihn entweder wie einen Halbgott oder wie ein Ungeheuer
und bisweilen wie beides zugleich angesehen habe.

Die Halsstarrigkeit Napoleons in allen den Friedensverha»ti»ngen, die
während des Winters von 1814 angeknüpft wurden, zwangen Gentz, sich endlich
doch anch umzudenken. Nach dem Abbruch der Verhandlungen von ClMillon


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[0174] Friedrich von Gentz, oder 1688. Die Nation hat Napoleon anerkannt, auch alle andern, England zufälligerweise ausgenommen, ebenso wiederholt als freiwillig." Man traut seinen Augen nicht, wenn man diese Zeilen liest. So waren die Gedanken, welche einst das ganze Wesen des Mannes beherrscht hatten, wie ausgelöscht aus seiner Seele, selbst die Erinnerung, daß er sie einmal gehegt hatte, war aus ihr verschwunden. In welchen Ausdrücken hatte er einst über die Machthaber von 1793, über Napoleon, als er den Kaisertitel annahm, den Stab gebrochen! Es giebt einen unveröffentlichten Brief an Brinkmann aus dem Jahre 1804, der sich in förmlichen Wutausbrüchen über die Usurpation Napoleons und die schmachvolle Feigheit Europas, die sie so ruhig hinnahm, ergeht. Und nun! Nun findet er den Mißbrauch der Gewalt, den Napoleon nach außen geübt, vollständig gesühnt. Im Innern aber habe er „keinen Richter auf Erden." „Wenn die oberste Gewalt in unerträgliche Tyrannei ausartet, alle göttlichen und menschlichen Gesetze verschmäht und zuletzt in einem Aus¬ bruch von Erbitterung des von ihr selbst aufs höchste gereizten Volkes ihren wohlverdienten Untergang findet, so ist es einem unbefangenen Beschauer er¬ laubt, die Katastrophe wie eine Naturbegebenheit zu betrachten, sie zu erklären, sie auf ihre Gründe zurückzuführen, sie zur Lehre und Warnung aufzustellen, sie sogar zu entschuldigen, nur niemals sie zu rechtfertigen. Ein anerkanntes Recht zur Rebellion ist ein Prinzip des Todes für die gesellschaftliche Ver¬ fassung." Welches praktische Ergebnis haben aber diese Folgerungen für ihn? Weder die französische Nation selbst noch die verbündeten Mächte — mit Ausnahme Englands — haben das Recht, Napoleon abzusetzen, sehr wohl aber können sie ihn trotz des Willens der Franzosen ans seinem Thron erhalten. staatsrecht¬ lich steht dies für Gentz, wie er sagt, ganz sicher. Nur vom politischen Stand¬ punkte wagt er nicht so entschieden zu sprechen. Doch scheint ihn zum mindesten Österreichs und Preußens Interesse gegen die Bourbonen zu spreche», denn die Unabhängigkeit beider fordere, daß zwischen Rußland und Frankreich keine An¬ näherung stattfinde. Dieser Grundsatz, den Metternich selbst früher aufgestellt habe, sei für ihn jetzt der Hauptpunkt in dem ganzen System der jetzigen Politik. Daß Napoleon nach den Erfahrungen des letzten Jahres dem euro¬ päischen Gleichgewicht »och einmal gefährlich werden könnte, giebt er nicht zu; er bezeichnet es „als die Quelle aller großen Irrtümer — und also auch aller großen Leiden der Zeit" —, daß man sich gar nie die Frage aufgeworfen habe, ob man denn mit Napoleon nicht auskomme», nicht politisch mit ihm leben könne, und daß man ihn entweder wie einen Halbgott oder wie ein Ungeheuer und bisweilen wie beides zugleich angesehen habe. Die Halsstarrigkeit Napoleons in allen den Friedensverha»ti»ngen, die während des Winters von 1814 angeknüpft wurden, zwangen Gentz, sich endlich doch anch umzudenken. Nach dem Abbruch der Verhandlungen von ClMillon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/174>, abgerufen am 17.09.2024.