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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Gebctstücher von feiner weißer Seide. Höchst sonderbar nahm sich, wenigstens
in meinen Augen, der Vorbeter oder Vorsänger aus. Ein langer schwarzer
Kasten umschlotterte den hagern Körper, ein langer Bart wallte ihm herab bis
auf die Mitte der Brust, und auf dem Haupte trug er quer gesetzt einen Drei¬
master von ungewöhnlicher Größe. Dieser Mann legte häufig beide Hände an
den Mund, als wolle er jemand in der Ferne zurufen. Dann erhob er seine
Stinime machtvoll, daß sie wiederhallte an den düstern Wänden, und alle Beter
hinter den Pulten wackelten noch heftiger mit dem Oberleibe und beteten eben¬
falls lauter. Auf diese eigentümliche Versammlung jetzt dumpf murmelnder,
dann wieder laut aufkreischender Männer -- oder sollte das Geschrei Jauchzen
und Lobsingen vorstellen? -- blickten schweigend alte und junge Frauen von
oben herab durch eng vergitterte Fenster.

Dieser erste Besuch in einer Synagoge ist mir unvergeßlich geblieben.
Später habe ich noch oft die polnischen Synagogen in Leipzig betreten, wo
es zur Zeit der Messe deren mehrere gab, in denen es ebenso geräuschvoll
zuging, nie aber wurde ich wieder so überrascht und in eine so ganz fremde
Welt versetzt wie in jener alten Synagoge von Teplitz. Unbegreiflich blieb es
mir, wie Menschen von Geist und Glaubensinnigkeit Gott auf so seltsame Weise
verehren und anbeten können.

Nach Beendigung der Kur, die sich bei den Leiden des Vaters erfolgreich
erwies, rüsteten wir uns zur Heimreise. Wie verabredet war, sollte diese zu
Fuß angetreten und ausgeführt werden und der armschlenkernde Heilige aus
unserm Dorfe unser Führer und Geleitsmann sein. Der gute Mann hatte uns
während der ganzen Zeit unsers Aufenthalt nicht belästigt. Wir sahen ihn
selten und immer nur vorübergehend; erst am Morgen der Abreise stellte er
sich bei uns ein, vergnügt und redselig wie immer.

Der Weg nach Hanse führte uns über das Schlachtfeld von Kulm und
durch dieses Städtchen, das, am Fuße des Gebirges gelegen, mit seinen
hübschen neugebauten und ziegelgedeckten Häusern einen freundlichen Eindruck
machte. Die Spuren und Verwüstungen der Schlacht, welche nicht wenig
zum Sturze des corsischen Welteroberers beigetragen hatte, waren gänzlich
verwischt.

Am ersten Wandertage gegen Abend erreichten wir das Städtchen Tetschen
an der Elbe, wo übernachtet werden sollte. Unbekannt mit den Verhältnissen,
jeder Verschwendung aus Grundsatz und durch Erziehung abhold und, was
Komfort, den wir überhaupt uicht kannten, anbetraf, mit den primitivsten Ein¬
richtungen zufrieden, überließ der Vater unserm sparsamen Reisemarschall die
Wahl des Nachtquartiers. Der Mann war schon früher in Tetschen gewesen,
mußte also die geeigneten Lokalitäten kennen. Ob es damals in dem malerisch
gelegenen Städtchen ein anständiges Wirtshaus gab, mag dahin gestellt bleiben,
wir unter Führung unsers Mentors, der beinahe von der Luft zu leben ver-


Jugenderinnerungen.

Gebctstücher von feiner weißer Seide. Höchst sonderbar nahm sich, wenigstens
in meinen Augen, der Vorbeter oder Vorsänger aus. Ein langer schwarzer
Kasten umschlotterte den hagern Körper, ein langer Bart wallte ihm herab bis
auf die Mitte der Brust, und auf dem Haupte trug er quer gesetzt einen Drei¬
master von ungewöhnlicher Größe. Dieser Mann legte häufig beide Hände an
den Mund, als wolle er jemand in der Ferne zurufen. Dann erhob er seine
Stinime machtvoll, daß sie wiederhallte an den düstern Wänden, und alle Beter
hinter den Pulten wackelten noch heftiger mit dem Oberleibe und beteten eben¬
falls lauter. Auf diese eigentümliche Versammlung jetzt dumpf murmelnder,
dann wieder laut aufkreischender Männer — oder sollte das Geschrei Jauchzen
und Lobsingen vorstellen? — blickten schweigend alte und junge Frauen von
oben herab durch eng vergitterte Fenster.

Dieser erste Besuch in einer Synagoge ist mir unvergeßlich geblieben.
Später habe ich noch oft die polnischen Synagogen in Leipzig betreten, wo
es zur Zeit der Messe deren mehrere gab, in denen es ebenso geräuschvoll
zuging, nie aber wurde ich wieder so überrascht und in eine so ganz fremde
Welt versetzt wie in jener alten Synagoge von Teplitz. Unbegreiflich blieb es
mir, wie Menschen von Geist und Glaubensinnigkeit Gott auf so seltsame Weise
verehren und anbeten können.

Nach Beendigung der Kur, die sich bei den Leiden des Vaters erfolgreich
erwies, rüsteten wir uns zur Heimreise. Wie verabredet war, sollte diese zu
Fuß angetreten und ausgeführt werden und der armschlenkernde Heilige aus
unserm Dorfe unser Führer und Geleitsmann sein. Der gute Mann hatte uns
während der ganzen Zeit unsers Aufenthalt nicht belästigt. Wir sahen ihn
selten und immer nur vorübergehend; erst am Morgen der Abreise stellte er
sich bei uns ein, vergnügt und redselig wie immer.

Der Weg nach Hanse führte uns über das Schlachtfeld von Kulm und
durch dieses Städtchen, das, am Fuße des Gebirges gelegen, mit seinen
hübschen neugebauten und ziegelgedeckten Häusern einen freundlichen Eindruck
machte. Die Spuren und Verwüstungen der Schlacht, welche nicht wenig
zum Sturze des corsischen Welteroberers beigetragen hatte, waren gänzlich
verwischt.

Am ersten Wandertage gegen Abend erreichten wir das Städtchen Tetschen
an der Elbe, wo übernachtet werden sollte. Unbekannt mit den Verhältnissen,
jeder Verschwendung aus Grundsatz und durch Erziehung abhold und, was
Komfort, den wir überhaupt uicht kannten, anbetraf, mit den primitivsten Ein¬
richtungen zufrieden, überließ der Vater unserm sparsamen Reisemarschall die
Wahl des Nachtquartiers. Der Mann war schon früher in Tetschen gewesen,
mußte also die geeigneten Lokalitäten kennen. Ob es damals in dem malerisch
gelegenen Städtchen ein anständiges Wirtshaus gab, mag dahin gestellt bleiben,
wir unter Führung unsers Mentors, der beinahe von der Luft zu leben ver-


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[0147] Jugenderinnerungen. Gebctstücher von feiner weißer Seide. Höchst sonderbar nahm sich, wenigstens in meinen Augen, der Vorbeter oder Vorsänger aus. Ein langer schwarzer Kasten umschlotterte den hagern Körper, ein langer Bart wallte ihm herab bis auf die Mitte der Brust, und auf dem Haupte trug er quer gesetzt einen Drei¬ master von ungewöhnlicher Größe. Dieser Mann legte häufig beide Hände an den Mund, als wolle er jemand in der Ferne zurufen. Dann erhob er seine Stinime machtvoll, daß sie wiederhallte an den düstern Wänden, und alle Beter hinter den Pulten wackelten noch heftiger mit dem Oberleibe und beteten eben¬ falls lauter. Auf diese eigentümliche Versammlung jetzt dumpf murmelnder, dann wieder laut aufkreischender Männer — oder sollte das Geschrei Jauchzen und Lobsingen vorstellen? — blickten schweigend alte und junge Frauen von oben herab durch eng vergitterte Fenster. Dieser erste Besuch in einer Synagoge ist mir unvergeßlich geblieben. Später habe ich noch oft die polnischen Synagogen in Leipzig betreten, wo es zur Zeit der Messe deren mehrere gab, in denen es ebenso geräuschvoll zuging, nie aber wurde ich wieder so überrascht und in eine so ganz fremde Welt versetzt wie in jener alten Synagoge von Teplitz. Unbegreiflich blieb es mir, wie Menschen von Geist und Glaubensinnigkeit Gott auf so seltsame Weise verehren und anbeten können. Nach Beendigung der Kur, die sich bei den Leiden des Vaters erfolgreich erwies, rüsteten wir uns zur Heimreise. Wie verabredet war, sollte diese zu Fuß angetreten und ausgeführt werden und der armschlenkernde Heilige aus unserm Dorfe unser Führer und Geleitsmann sein. Der gute Mann hatte uns während der ganzen Zeit unsers Aufenthalt nicht belästigt. Wir sahen ihn selten und immer nur vorübergehend; erst am Morgen der Abreise stellte er sich bei uns ein, vergnügt und redselig wie immer. Der Weg nach Hanse führte uns über das Schlachtfeld von Kulm und durch dieses Städtchen, das, am Fuße des Gebirges gelegen, mit seinen hübschen neugebauten und ziegelgedeckten Häusern einen freundlichen Eindruck machte. Die Spuren und Verwüstungen der Schlacht, welche nicht wenig zum Sturze des corsischen Welteroberers beigetragen hatte, waren gänzlich verwischt. Am ersten Wandertage gegen Abend erreichten wir das Städtchen Tetschen an der Elbe, wo übernachtet werden sollte. Unbekannt mit den Verhältnissen, jeder Verschwendung aus Grundsatz und durch Erziehung abhold und, was Komfort, den wir überhaupt uicht kannten, anbetraf, mit den primitivsten Ein¬ richtungen zufrieden, überließ der Vater unserm sparsamen Reisemarschall die Wahl des Nachtquartiers. Der Mann war schon früher in Tetschen gewesen, mußte also die geeigneten Lokalitäten kennen. Ob es damals in dem malerisch gelegenen Städtchen ein anständiges Wirtshaus gab, mag dahin gestellt bleiben, wir unter Führung unsers Mentors, der beinahe von der Luft zu leben ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/147>, abgerufen am 17.09.2024.