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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

ihrer Herrschaft möglich. Diese Herrschaft dauerte aber nicht lange geung, das
mongolische Joch wurde im vierzehnten Jahrhundert abgeschüttelt, und nach
einer dreihundertjährigen Regierungszeit der Mings kam die Mandschu-Dyncistie
ans Ruder, die sich noch heute im Besitz derselben befindet.

Die Größe des Reiches mit seinen nahezu vierhundert Millionen Ein¬
wohnern ermöglichte jenes System der Abschließung, welches bis heute, und in
vollster Ausführung wenigstens bis in die Mitte dieses Jahrhunderts, bewahrt
wurde. Seit dritthalb Jahrtausenden ist dieses Staatswesen fast unverändert
dasselbe geblieben; mit einer Zähigkeit sonder gleichen hält das Volk an den
alten Überlieferungen fest, ohne daß die Pietät dabei anch nur im geringsten
eine Rolle spielte, sondern dieses starre Festhalten ist nichts mehr und nichts
weniger, als im Laufe der Jahrhunderte planmäßig anerzogenes Verstandeswerk.
Es giebt für dieses Volk keinen Begriff und kein Gefühl für Poesie, wenigstens
spielt sie nur eine sehr untergeordnete Rolle, ihre Kunstwerke tragen den
Stempel des nur auf den Nutzen berechneten Fleißes, niemals den des Strebens
nach Edeln und Schönem, ihre Religion ist im niedern Volk eine Summe aber¬
gläubischer Gebräuche, im gebildeten Teile ein Erzeugnis kalt berechneter Philo¬
sophie und Nützlichkeitsrücksicht.

Die Negierung ist patriarchalisch, und die Verwaltung des Landes befindet
sich in den Händen eines ungeheuern Apparates strebsamer Gelehrten oder, besser
gesagt, gelehrter Streber mit einem sogenannten "hohen Staatsrat" an der
Spitze, bei dem der Kaiser selbst den Vorsitz führt, der die Gesetze giebt, Ver¬
ordnungen erläßt und alles in letzter Instanz entscheidet. Ans demselben Grunde
besteht die Aristokratie des Landes nicht ans Geburth- und erblichem Adel,
sondern ausschließlich aus der Quintessenz der Gelehrsamkeit; sie liefert die
Mandarinen oder Beamten, ist aber darum nicht mit wirklicher Bildung zu
verwechseln, sondern sie bedeutet nur eben eine Klasse von Menschen, die eine
bestimmte, durch Staatsprüfungen gewährleistete Masse von Wissen in sich auf¬
genommen haben und deshalb die im Range höchste Klasse des Volkes bilden.
Der von ihnen zur Schau getragene Beamteustolz ist unbegrenzt; alles übrige
Volk, namentlich die Gewerbtreibenden, die Kaufleute?c., stehen tief unter ihnen,
und daher ist es wohl erklärlich, daß die "hohe Gelehrsamkeit" das ausschlie߬
liche Ziel des Ehrgeizes im himmlischen Reiche bildet.

Nun besteht dort aber alles Lernen und Wissen nur in einer Unsumme
von Formenwesen, ist nur auf äußerlichen Nutzen berechnet und ausschließlich
Gedächtniswerk. Von ihrem Besitz Zeugnis abzulegen, dazu dienen in ihrer
Art großartige Staatsprüfungsanftalteu, mit deren Wesen die Leser bekannt zu
machen der Zweck dieses Aufsatzes ist.

Der Nutzen der reinen Konkurreuzprüfung ist auch bei uns im "barba¬
rischen" Westen ein Gegenstand mannichfncher Erörterung, und die Ansichten
darüber sind geteilt. Freunde wie Gegner mögen in der nachstehenden sehn-


Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte.

ihrer Herrschaft möglich. Diese Herrschaft dauerte aber nicht lange geung, das
mongolische Joch wurde im vierzehnten Jahrhundert abgeschüttelt, und nach
einer dreihundertjährigen Regierungszeit der Mings kam die Mandschu-Dyncistie
ans Ruder, die sich noch heute im Besitz derselben befindet.

Die Größe des Reiches mit seinen nahezu vierhundert Millionen Ein¬
wohnern ermöglichte jenes System der Abschließung, welches bis heute, und in
vollster Ausführung wenigstens bis in die Mitte dieses Jahrhunderts, bewahrt
wurde. Seit dritthalb Jahrtausenden ist dieses Staatswesen fast unverändert
dasselbe geblieben; mit einer Zähigkeit sonder gleichen hält das Volk an den
alten Überlieferungen fest, ohne daß die Pietät dabei anch nur im geringsten
eine Rolle spielte, sondern dieses starre Festhalten ist nichts mehr und nichts
weniger, als im Laufe der Jahrhunderte planmäßig anerzogenes Verstandeswerk.
Es giebt für dieses Volk keinen Begriff und kein Gefühl für Poesie, wenigstens
spielt sie nur eine sehr untergeordnete Rolle, ihre Kunstwerke tragen den
Stempel des nur auf den Nutzen berechneten Fleißes, niemals den des Strebens
nach Edeln und Schönem, ihre Religion ist im niedern Volk eine Summe aber¬
gläubischer Gebräuche, im gebildeten Teile ein Erzeugnis kalt berechneter Philo¬
sophie und Nützlichkeitsrücksicht.

Die Negierung ist patriarchalisch, und die Verwaltung des Landes befindet
sich in den Händen eines ungeheuern Apparates strebsamer Gelehrten oder, besser
gesagt, gelehrter Streber mit einem sogenannten „hohen Staatsrat" an der
Spitze, bei dem der Kaiser selbst den Vorsitz führt, der die Gesetze giebt, Ver¬
ordnungen erläßt und alles in letzter Instanz entscheidet. Ans demselben Grunde
besteht die Aristokratie des Landes nicht ans Geburth- und erblichem Adel,
sondern ausschließlich aus der Quintessenz der Gelehrsamkeit; sie liefert die
Mandarinen oder Beamten, ist aber darum nicht mit wirklicher Bildung zu
verwechseln, sondern sie bedeutet nur eben eine Klasse von Menschen, die eine
bestimmte, durch Staatsprüfungen gewährleistete Masse von Wissen in sich auf¬
genommen haben und deshalb die im Range höchste Klasse des Volkes bilden.
Der von ihnen zur Schau getragene Beamteustolz ist unbegrenzt; alles übrige
Volk, namentlich die Gewerbtreibenden, die Kaufleute?c., stehen tief unter ihnen,
und daher ist es wohl erklärlich, daß die „hohe Gelehrsamkeit" das ausschlie߬
liche Ziel des Ehrgeizes im himmlischen Reiche bildet.

Nun besteht dort aber alles Lernen und Wissen nur in einer Unsumme
von Formenwesen, ist nur auf äußerlichen Nutzen berechnet und ausschließlich
Gedächtniswerk. Von ihrem Besitz Zeugnis abzulegen, dazu dienen in ihrer
Art großartige Staatsprüfungsanftalteu, mit deren Wesen die Leser bekannt zu
machen der Zweck dieses Aufsatzes ist.

Der Nutzen der reinen Konkurreuzprüfung ist auch bei uns im „barba¬
rischen" Westen ein Gegenstand mannichfncher Erörterung, und die Ansichten
darüber sind geteilt. Freunde wie Gegner mögen in der nachstehenden sehn-


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[0095] Line Staatsprüfung im Reiche der Mitte. ihrer Herrschaft möglich. Diese Herrschaft dauerte aber nicht lange geung, das mongolische Joch wurde im vierzehnten Jahrhundert abgeschüttelt, und nach einer dreihundertjährigen Regierungszeit der Mings kam die Mandschu-Dyncistie ans Ruder, die sich noch heute im Besitz derselben befindet. Die Größe des Reiches mit seinen nahezu vierhundert Millionen Ein¬ wohnern ermöglichte jenes System der Abschließung, welches bis heute, und in vollster Ausführung wenigstens bis in die Mitte dieses Jahrhunderts, bewahrt wurde. Seit dritthalb Jahrtausenden ist dieses Staatswesen fast unverändert dasselbe geblieben; mit einer Zähigkeit sonder gleichen hält das Volk an den alten Überlieferungen fest, ohne daß die Pietät dabei anch nur im geringsten eine Rolle spielte, sondern dieses starre Festhalten ist nichts mehr und nichts weniger, als im Laufe der Jahrhunderte planmäßig anerzogenes Verstandeswerk. Es giebt für dieses Volk keinen Begriff und kein Gefühl für Poesie, wenigstens spielt sie nur eine sehr untergeordnete Rolle, ihre Kunstwerke tragen den Stempel des nur auf den Nutzen berechneten Fleißes, niemals den des Strebens nach Edeln und Schönem, ihre Religion ist im niedern Volk eine Summe aber¬ gläubischer Gebräuche, im gebildeten Teile ein Erzeugnis kalt berechneter Philo¬ sophie und Nützlichkeitsrücksicht. Die Negierung ist patriarchalisch, und die Verwaltung des Landes befindet sich in den Händen eines ungeheuern Apparates strebsamer Gelehrten oder, besser gesagt, gelehrter Streber mit einem sogenannten „hohen Staatsrat" an der Spitze, bei dem der Kaiser selbst den Vorsitz führt, der die Gesetze giebt, Ver¬ ordnungen erläßt und alles in letzter Instanz entscheidet. Ans demselben Grunde besteht die Aristokratie des Landes nicht ans Geburth- und erblichem Adel, sondern ausschließlich aus der Quintessenz der Gelehrsamkeit; sie liefert die Mandarinen oder Beamten, ist aber darum nicht mit wirklicher Bildung zu verwechseln, sondern sie bedeutet nur eben eine Klasse von Menschen, die eine bestimmte, durch Staatsprüfungen gewährleistete Masse von Wissen in sich auf¬ genommen haben und deshalb die im Range höchste Klasse des Volkes bilden. Der von ihnen zur Schau getragene Beamteustolz ist unbegrenzt; alles übrige Volk, namentlich die Gewerbtreibenden, die Kaufleute?c., stehen tief unter ihnen, und daher ist es wohl erklärlich, daß die „hohe Gelehrsamkeit" das ausschlie߬ liche Ziel des Ehrgeizes im himmlischen Reiche bildet. Nun besteht dort aber alles Lernen und Wissen nur in einer Unsumme von Formenwesen, ist nur auf äußerlichen Nutzen berechnet und ausschließlich Gedächtniswerk. Von ihrem Besitz Zeugnis abzulegen, dazu dienen in ihrer Art großartige Staatsprüfungsanftalteu, mit deren Wesen die Leser bekannt zu machen der Zweck dieses Aufsatzes ist. Der Nutzen der reinen Konkurreuzprüfung ist auch bei uns im „barba¬ rischen" Westen ein Gegenstand mannichfncher Erörterung, und die Ansichten darüber sind geteilt. Freunde wie Gegner mögen in der nachstehenden sehn-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/95>, abgerufen am 04.07.2024.