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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

da unten in der kalten, schwarzen Tiefe? Niemand konnte ihn ansehen, ohne
ihn lieb zu gewinnen, und noch vor wenigen Stunden war er so froh und so
glücklich! Armer, kleiner Tippe!

Und dann gab ihm die Mutter des kleinen Knaben den letzten Rest ihres
Weihnachtsgeschenkes. Sie neigte ihr Haupt und weinte über ihn, wie sie
wünschte, daß eine andre Mutter über ihren kleinen Jungen weinte, wenn sie
tot gewesen und davon gegangen wäre. Es ist herrlich, zu den ewigen Freuden
des Himmels einzugehen,^ aber Thränen müssen auf das Grab fallen. Dann
sprossen die Blumen darauf, und die Erinnerung grünt zum Segen für die
Hinterbliebenen!

Wie sich das aber alles zugetragen hatte? Darüber nachzudenken, war
keine Zeit an jenem Abend, denn plötzlich, wie sie noch alle so dastanden,
schlugen die hellen Flammen aus dem Hause des alten Jens. Auch das hatte
sein Tagewerk vollendet, und wieder erklangen die Töne der Glocke und läuteten
auch das zur Ruhe -- es lag in Schutt und Asche, ehe der Weihnachtsabend
zu Ende ging.

Und alle die Berechnungen, welche die klugen Leute des Dorfes gemacht
und deren Früchte sie herbeigesehnt hatten, wurden damit zu Staub und Asche.
Niemand erfuhr jemals, wie viel der alte Jens zusammengespart hatte, und nie¬
mand erfuhr, was aus dem Tode herauszuschlagen gewesen wäre, wenn man
das Bild an den rechten Mann gebracht hätte. Das lag alles unter der Asche
des alten Hauses begraben, und das war im Grunde sehr ärgerlich. Aber ein
Trost war doch dabei.

Es ist nur gut, daß wir auf diese Weife den Tod losgeworden sind,
sagten sie. Denn man mag sagen, was man will, es ist niemals gut, so etwas
stets vor Augen zu haben und es Tag für Tag anzustarren -- das haben wir
ja immer gesagt, und nun haben wir den Beweis.

Ob sie nun aber auch ganz sicher waren, daß er nicht, ehe sie sichs ver¬
sahen, wieder mitten unter ihnen stehen würde, das ist freilich eine andre Frage,
denn der Gevatter Tod hat eine eigne Weise, stets dort aufzutauchen, wo man
ihn am wenigsten erwartet. Eins steht fest: Abend für Abend ließ die Glocke
ihren Gesang ertönen, den der alte Jens sie gelehrt hatte:

Kling klang!
Der Tag ist verglommen.
Kling klang!
Der Tod wird kommen.



Gevatter Tod.

da unten in der kalten, schwarzen Tiefe? Niemand konnte ihn ansehen, ohne
ihn lieb zu gewinnen, und noch vor wenigen Stunden war er so froh und so
glücklich! Armer, kleiner Tippe!

Und dann gab ihm die Mutter des kleinen Knaben den letzten Rest ihres
Weihnachtsgeschenkes. Sie neigte ihr Haupt und weinte über ihn, wie sie
wünschte, daß eine andre Mutter über ihren kleinen Jungen weinte, wenn sie
tot gewesen und davon gegangen wäre. Es ist herrlich, zu den ewigen Freuden
des Himmels einzugehen,^ aber Thränen müssen auf das Grab fallen. Dann
sprossen die Blumen darauf, und die Erinnerung grünt zum Segen für die
Hinterbliebenen!

Wie sich das aber alles zugetragen hatte? Darüber nachzudenken, war
keine Zeit an jenem Abend, denn plötzlich, wie sie noch alle so dastanden,
schlugen die hellen Flammen aus dem Hause des alten Jens. Auch das hatte
sein Tagewerk vollendet, und wieder erklangen die Töne der Glocke und läuteten
auch das zur Ruhe — es lag in Schutt und Asche, ehe der Weihnachtsabend
zu Ende ging.

Und alle die Berechnungen, welche die klugen Leute des Dorfes gemacht
und deren Früchte sie herbeigesehnt hatten, wurden damit zu Staub und Asche.
Niemand erfuhr jemals, wie viel der alte Jens zusammengespart hatte, und nie¬
mand erfuhr, was aus dem Tode herauszuschlagen gewesen wäre, wenn man
das Bild an den rechten Mann gebracht hätte. Das lag alles unter der Asche
des alten Hauses begraben, und das war im Grunde sehr ärgerlich. Aber ein
Trost war doch dabei.

Es ist nur gut, daß wir auf diese Weife den Tod losgeworden sind,
sagten sie. Denn man mag sagen, was man will, es ist niemals gut, so etwas
stets vor Augen zu haben und es Tag für Tag anzustarren — das haben wir
ja immer gesagt, und nun haben wir den Beweis.

Ob sie nun aber auch ganz sicher waren, daß er nicht, ehe sie sichs ver¬
sahen, wieder mitten unter ihnen stehen würde, das ist freilich eine andre Frage,
denn der Gevatter Tod hat eine eigne Weise, stets dort aufzutauchen, wo man
ihn am wenigsten erwartet. Eins steht fest: Abend für Abend ließ die Glocke
ihren Gesang ertönen, den der alte Jens sie gelehrt hatte:

Kling klang!
Der Tag ist verglommen.
Kling klang!
Der Tod wird kommen.



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[0659] Gevatter Tod. da unten in der kalten, schwarzen Tiefe? Niemand konnte ihn ansehen, ohne ihn lieb zu gewinnen, und noch vor wenigen Stunden war er so froh und so glücklich! Armer, kleiner Tippe! Und dann gab ihm die Mutter des kleinen Knaben den letzten Rest ihres Weihnachtsgeschenkes. Sie neigte ihr Haupt und weinte über ihn, wie sie wünschte, daß eine andre Mutter über ihren kleinen Jungen weinte, wenn sie tot gewesen und davon gegangen wäre. Es ist herrlich, zu den ewigen Freuden des Himmels einzugehen,^ aber Thränen müssen auf das Grab fallen. Dann sprossen die Blumen darauf, und die Erinnerung grünt zum Segen für die Hinterbliebenen! Wie sich das aber alles zugetragen hatte? Darüber nachzudenken, war keine Zeit an jenem Abend, denn plötzlich, wie sie noch alle so dastanden, schlugen die hellen Flammen aus dem Hause des alten Jens. Auch das hatte sein Tagewerk vollendet, und wieder erklangen die Töne der Glocke und läuteten auch das zur Ruhe — es lag in Schutt und Asche, ehe der Weihnachtsabend zu Ende ging. Und alle die Berechnungen, welche die klugen Leute des Dorfes gemacht und deren Früchte sie herbeigesehnt hatten, wurden damit zu Staub und Asche. Niemand erfuhr jemals, wie viel der alte Jens zusammengespart hatte, und nie¬ mand erfuhr, was aus dem Tode herauszuschlagen gewesen wäre, wenn man das Bild an den rechten Mann gebracht hätte. Das lag alles unter der Asche des alten Hauses begraben, und das war im Grunde sehr ärgerlich. Aber ein Trost war doch dabei. Es ist nur gut, daß wir auf diese Weife den Tod losgeworden sind, sagten sie. Denn man mag sagen, was man will, es ist niemals gut, so etwas stets vor Augen zu haben und es Tag für Tag anzustarren — das haben wir ja immer gesagt, und nun haben wir den Beweis. Ob sie nun aber auch ganz sicher waren, daß er nicht, ehe sie sichs ver¬ sahen, wieder mitten unter ihnen stehen würde, das ist freilich eine andre Frage, denn der Gevatter Tod hat eine eigne Weise, stets dort aufzutauchen, wo man ihn am wenigsten erwartet. Eins steht fest: Abend für Abend ließ die Glocke ihren Gesang ertönen, den der alte Jens sie gelehrt hatte: Kling klang! Der Tag ist verglommen. Kling klang! Der Tod wird kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/659>, abgerufen am 22.07.2024.