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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

Entsetzt fuhr der alte Jens auf, er blickte um sich, als wüßte er nicht recht,
ob er wache oder träume. Hatte denn die Glocke plötzlich Macht bekommen,
ihre Zunge selber zu bewegen, oder war es ein Zauber, der sie gerührt hatte?
Und welche Macht der Welt hatte ihn dazu gebracht, die Glocke, wie die Kirche,
das ganze Dorf und sich selber zu vergessen, ihn, der doch stets auf seinem
Platze gewesen war, so sicher wie der Tod?

Nur einen Augenblick durchkreisten die Gedanken in wildem Taumel sein
Gehirn, dann wandte er dem hellen Glänze des Weihnachtsbaumes den Rücken,
sprang durch das dunkle Zimmer, so schnell ihn seine alten Beine tragen wollten,
und war mit einem Satze zum Hause hinaus.

Erst Tippe! rief der Kleine, der wohl wußte, um was es sich handelte.
Er hielt gerade ein paar brennende Wachslichter in der Hand und freute sich
an der hellen Flamme. Aber ohne sich zu besinnen, warf er sie zur Erde und
eilte davon. Und plötzlich flackerte, flammte und leuchtete es in dem dunkeln
Zimmer, und bei dem unsichern Scheine trat die Gestalt des Todes hervor,
immer größer, immer deutlicher werdend. Es war, als hätte er plötzlich Leben
und Bewegung angenommen und stiege nun aus dem Bilde heraus, um den
Eilenden zu folgen. Aber niemand sah es.

Beim schwachen Lichte der Sterne arbeitete sich der alte Jens keuchend
und stöhnend über die weiße Schneefläche dahin, aber die behenden Beinchen
des kleinen Tippe überholten ihn bald.

Hurrah! Erst Tippe! rief er noch einmal, er war ja daran gewöhnt, dem
Alten den Weg zu zeigen.

Da knackte es in dem dünnen Eise, das sich über dem Loch gebildet hatte,
welches die Knaben gehauen hatten -- es lag wie ein glänzender Edelstein
mitten in dem Weißen Schnee. Ein plätscherndes, gurgelndes Geräusch ward
hörbar, und dann war der kleine Tippe verschwunden. In einem einzigen Augen¬
blicke war das alles geschehen, keine Klage, kein Laut war über seine Lippen
gekommen. Aber hinter ihm ertönte ein Heller Schrei, wie von einer Stimme,
die lange heiser gewesen ist und die nun plötzlich in wilder Verzweiflung bricht.

Tippe! rief die Stimme des alten Jens zum letztenmale mit markerschüttern¬
den Klang in den stillen Abend hinaus, sodaß es weithin schallte, dann stürzte
er vorwärts.

Und noch einmal knackte und krachte das dünne Eis; wie ein leiser Seufzer
entstieg es der wogenden Masse und lief unter dem Eise hin wie ein ersterbender
Ton, und dann war auch der alte Jens verschwunden.

Aber Tippe hörte es nicht und merkte es auch nicht, er ging ein in eine
neue Welt, er wußte selber nicht wie. Weit hinab in die dunkle, kalte Tiefe
schoß er gleich einem Pfeil. Das Eis legte seine Hand auf ihn, das strömende
Wasser schloß die Thür hinter ihm ab, und wunderbare, wirre Töne klangen
in seine Ohren, sausten und brausten an ihm vorüber. Einen Augenblick war


Gevatter Tod.

Entsetzt fuhr der alte Jens auf, er blickte um sich, als wüßte er nicht recht,
ob er wache oder träume. Hatte denn die Glocke plötzlich Macht bekommen,
ihre Zunge selber zu bewegen, oder war es ein Zauber, der sie gerührt hatte?
Und welche Macht der Welt hatte ihn dazu gebracht, die Glocke, wie die Kirche,
das ganze Dorf und sich selber zu vergessen, ihn, der doch stets auf seinem
Platze gewesen war, so sicher wie der Tod?

Nur einen Augenblick durchkreisten die Gedanken in wildem Taumel sein
Gehirn, dann wandte er dem hellen Glänze des Weihnachtsbaumes den Rücken,
sprang durch das dunkle Zimmer, so schnell ihn seine alten Beine tragen wollten,
und war mit einem Satze zum Hause hinaus.

Erst Tippe! rief der Kleine, der wohl wußte, um was es sich handelte.
Er hielt gerade ein paar brennende Wachslichter in der Hand und freute sich
an der hellen Flamme. Aber ohne sich zu besinnen, warf er sie zur Erde und
eilte davon. Und plötzlich flackerte, flammte und leuchtete es in dem dunkeln
Zimmer, und bei dem unsichern Scheine trat die Gestalt des Todes hervor,
immer größer, immer deutlicher werdend. Es war, als hätte er plötzlich Leben
und Bewegung angenommen und stiege nun aus dem Bilde heraus, um den
Eilenden zu folgen. Aber niemand sah es.

Beim schwachen Lichte der Sterne arbeitete sich der alte Jens keuchend
und stöhnend über die weiße Schneefläche dahin, aber die behenden Beinchen
des kleinen Tippe überholten ihn bald.

Hurrah! Erst Tippe! rief er noch einmal, er war ja daran gewöhnt, dem
Alten den Weg zu zeigen.

Da knackte es in dem dünnen Eise, das sich über dem Loch gebildet hatte,
welches die Knaben gehauen hatten — es lag wie ein glänzender Edelstein
mitten in dem Weißen Schnee. Ein plätscherndes, gurgelndes Geräusch ward
hörbar, und dann war der kleine Tippe verschwunden. In einem einzigen Augen¬
blicke war das alles geschehen, keine Klage, kein Laut war über seine Lippen
gekommen. Aber hinter ihm ertönte ein Heller Schrei, wie von einer Stimme,
die lange heiser gewesen ist und die nun plötzlich in wilder Verzweiflung bricht.

Tippe! rief die Stimme des alten Jens zum letztenmale mit markerschüttern¬
den Klang in den stillen Abend hinaus, sodaß es weithin schallte, dann stürzte
er vorwärts.

Und noch einmal knackte und krachte das dünne Eis; wie ein leiser Seufzer
entstieg es der wogenden Masse und lief unter dem Eise hin wie ein ersterbender
Ton, und dann war auch der alte Jens verschwunden.

Aber Tippe hörte es nicht und merkte es auch nicht, er ging ein in eine
neue Welt, er wußte selber nicht wie. Weit hinab in die dunkle, kalte Tiefe
schoß er gleich einem Pfeil. Das Eis legte seine Hand auf ihn, das strömende
Wasser schloß die Thür hinter ihm ab, und wunderbare, wirre Töne klangen
in seine Ohren, sausten und brausten an ihm vorüber. Einen Augenblick war


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[0656] Gevatter Tod. Entsetzt fuhr der alte Jens auf, er blickte um sich, als wüßte er nicht recht, ob er wache oder träume. Hatte denn die Glocke plötzlich Macht bekommen, ihre Zunge selber zu bewegen, oder war es ein Zauber, der sie gerührt hatte? Und welche Macht der Welt hatte ihn dazu gebracht, die Glocke, wie die Kirche, das ganze Dorf und sich selber zu vergessen, ihn, der doch stets auf seinem Platze gewesen war, so sicher wie der Tod? Nur einen Augenblick durchkreisten die Gedanken in wildem Taumel sein Gehirn, dann wandte er dem hellen Glänze des Weihnachtsbaumes den Rücken, sprang durch das dunkle Zimmer, so schnell ihn seine alten Beine tragen wollten, und war mit einem Satze zum Hause hinaus. Erst Tippe! rief der Kleine, der wohl wußte, um was es sich handelte. Er hielt gerade ein paar brennende Wachslichter in der Hand und freute sich an der hellen Flamme. Aber ohne sich zu besinnen, warf er sie zur Erde und eilte davon. Und plötzlich flackerte, flammte und leuchtete es in dem dunkeln Zimmer, und bei dem unsichern Scheine trat die Gestalt des Todes hervor, immer größer, immer deutlicher werdend. Es war, als hätte er plötzlich Leben und Bewegung angenommen und stiege nun aus dem Bilde heraus, um den Eilenden zu folgen. Aber niemand sah es. Beim schwachen Lichte der Sterne arbeitete sich der alte Jens keuchend und stöhnend über die weiße Schneefläche dahin, aber die behenden Beinchen des kleinen Tippe überholten ihn bald. Hurrah! Erst Tippe! rief er noch einmal, er war ja daran gewöhnt, dem Alten den Weg zu zeigen. Da knackte es in dem dünnen Eise, das sich über dem Loch gebildet hatte, welches die Knaben gehauen hatten — es lag wie ein glänzender Edelstein mitten in dem Weißen Schnee. Ein plätscherndes, gurgelndes Geräusch ward hörbar, und dann war der kleine Tippe verschwunden. In einem einzigen Augen¬ blicke war das alles geschehen, keine Klage, kein Laut war über seine Lippen gekommen. Aber hinter ihm ertönte ein Heller Schrei, wie von einer Stimme, die lange heiser gewesen ist und die nun plötzlich in wilder Verzweiflung bricht. Tippe! rief die Stimme des alten Jens zum letztenmale mit markerschüttern¬ den Klang in den stillen Abend hinaus, sodaß es weithin schallte, dann stürzte er vorwärts. Und noch einmal knackte und krachte das dünne Eis; wie ein leiser Seufzer entstieg es der wogenden Masse und lief unter dem Eise hin wie ein ersterbender Ton, und dann war auch der alte Jens verschwunden. Aber Tippe hörte es nicht und merkte es auch nicht, er ging ein in eine neue Welt, er wußte selber nicht wie. Weit hinab in die dunkle, kalte Tiefe schoß er gleich einem Pfeil. Das Eis legte seine Hand auf ihn, das strömende Wasser schloß die Thür hinter ihm ab, und wunderbare, wirre Töne klangen in seine Ohren, sausten und brausten an ihm vorüber. Einen Augenblick war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/656>, abgerufen am 25.08.2024.