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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.

genommen, und geleitet von unserm Dragoman, der uns durch einige Tschereks
von der erneuten Zollvisitation befreite, gelangten wir an Bord der "Mcchcilla."
Noch nehmen wir uns nicht die Zeit, unsre neuen Reisegefährten zu mustern,
denn eben werden die Anker gelichtet und es gilt, den letzten Blick von Konstan¬
tinopel zu erhaschen. Ein günstiger Himmel bereitete uns auch zum letzten male
eine glänzende Abschiedsbeleuchtung; bald ragt von Per" nur noch die deutsche
Botschaft als das Wahrzeichen unsers mächtigen Reiches empor, dann ent¬
schwindet das christliche Ufer gänzlich, während Stambul etwa noch eine Stunde
lang vor unsern Augen bleibt, zuerst in seiner vollen Ausdehnung bis zu den
sieben Türmen mit seinem Mastcnwcild von schlanken Minarets, die sich noch
einzeln von einander abheben. Noch einmal fällt das Auge auf die Hagia
Sofia und die Suleimanije, dann vereinigen sich die Minarets, und endlich
bezeichnet ein glänzender Streif am Horizont, daß auch Stambul für uns --
gewesen ist.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
13. Moderne Samariterinnen.

er Leser mag sich darauf gefaßt machen, in dieser Geschichte fast
ausschließlich mit ältern Damen und mit ältern jungen Damen zu
verkehren. Hier sind gleich zwei Paar, zunächst die Frau Gräfin
und die Frau Rätin, und dann Komtesse Thekla und die Lotte. Wir
befinden uns in Heringsdorf auf der Strandpromenade.
Die Frau Gräfin war eine verwitwete Gräfin Schladitz, und
zwar aus der reichen Linie. In B, gehörte sie zu einem der vielen christlichen
Kreise und war wegen ihrer Wohlthätigkeit allgemein geschätzt und allgemein in
Anspruch genommen. Im übrigen lebte sie sehr einfach und kleidete sich mehr als
einfach. Was sie hier wieder für ein Kleid anhatte, ist unglaublich; die reine
Kutte von einem Stoffe, der an Sackleinwand erinnerte, aber echte schwere Seide
war. Sie sah, oberflächlich betrachtet, nach gar nichts aus, bei näherem Zusehen
ließen die feinen, etwas leidenden Züge des Gesichtes und ein gewisses müdes
Wesen die vornehme Frau erkennen. Nach desto mehr sah die Frau Ncitin ans, eine
untersetzte lebhafte Dame von energischer Haltung und scharfen, wasserblauen Augen.
Jawohl, scharfen, wasserblauen Augen! Sie gehörte demselben Kreise an wie die
Frau Gräfin und durfte auf dem von ihr bearbeiteten Gebiete der Vereinswohlthütig-
keit zu den Großindustriellen gerechnet werden. Komtesse Thekla war die Nichte
der Gräfin, auch eine Schladitz, aber aus der armen Linie. Und die Lotte --
nun, das war eben die Lotte, der Adjutant der Frau Rätin -- nein wirklich, eine
sehr tüchtige Kraft. Ihre häuslichen Verhältniße waren eigentlich nicht derart --
ihre Mutter war eine Pastorswitwe, welche Not hatte, mit ihrer knappen Pension


Grenzboten IV. 1887. 63
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.

genommen, und geleitet von unserm Dragoman, der uns durch einige Tschereks
von der erneuten Zollvisitation befreite, gelangten wir an Bord der „Mcchcilla."
Noch nehmen wir uns nicht die Zeit, unsre neuen Reisegefährten zu mustern,
denn eben werden die Anker gelichtet und es gilt, den letzten Blick von Konstan¬
tinopel zu erhaschen. Ein günstiger Himmel bereitete uns auch zum letzten male
eine glänzende Abschiedsbeleuchtung; bald ragt von Per« nur noch die deutsche
Botschaft als das Wahrzeichen unsers mächtigen Reiches empor, dann ent¬
schwindet das christliche Ufer gänzlich, während Stambul etwa noch eine Stunde
lang vor unsern Augen bleibt, zuerst in seiner vollen Ausdehnung bis zu den
sieben Türmen mit seinem Mastcnwcild von schlanken Minarets, die sich noch
einzeln von einander abheben. Noch einmal fällt das Auge auf die Hagia
Sofia und die Suleimanije, dann vereinigen sich die Minarets, und endlich
bezeichnet ein glänzender Streif am Horizont, daß auch Stambul für uns —
gewesen ist.




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben.
13. Moderne Samariterinnen.

er Leser mag sich darauf gefaßt machen, in dieser Geschichte fast
ausschließlich mit ältern Damen und mit ältern jungen Damen zu
verkehren. Hier sind gleich zwei Paar, zunächst die Frau Gräfin
und die Frau Rätin, und dann Komtesse Thekla und die Lotte. Wir
befinden uns in Heringsdorf auf der Strandpromenade.
Die Frau Gräfin war eine verwitwete Gräfin Schladitz, und
zwar aus der reichen Linie. In B, gehörte sie zu einem der vielen christlichen
Kreise und war wegen ihrer Wohlthätigkeit allgemein geschätzt und allgemein in
Anspruch genommen. Im übrigen lebte sie sehr einfach und kleidete sich mehr als
einfach. Was sie hier wieder für ein Kleid anhatte, ist unglaublich; die reine
Kutte von einem Stoffe, der an Sackleinwand erinnerte, aber echte schwere Seide
war. Sie sah, oberflächlich betrachtet, nach gar nichts aus, bei näherem Zusehen
ließen die feinen, etwas leidenden Züge des Gesichtes und ein gewisses müdes
Wesen die vornehme Frau erkennen. Nach desto mehr sah die Frau Ncitin ans, eine
untersetzte lebhafte Dame von energischer Haltung und scharfen, wasserblauen Augen.
Jawohl, scharfen, wasserblauen Augen! Sie gehörte demselben Kreise an wie die
Frau Gräfin und durfte auf dem von ihr bearbeiteten Gebiete der Vereinswohlthütig-
keit zu den Großindustriellen gerechnet werden. Komtesse Thekla war die Nichte
der Gräfin, auch eine Schladitz, aber aus der armen Linie. Und die Lotte —
nun, das war eben die Lotte, der Adjutant der Frau Rätin — nein wirklich, eine
sehr tüchtige Kraft. Ihre häuslichen Verhältniße waren eigentlich nicht derart —
ihre Mutter war eine Pastorswitwe, welche Not hatte, mit ihrer knappen Pension


Grenzboten IV. 1887. 63
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/545>, abgerufen am 22.07.2024.