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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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lvieland und das Humanitätsideal.

in dem Grade, daß ich seinem Guten nicht Gerechtigkeit sollte widerfahren lassen.
Mein Absehen ist auf den Charakter eines Virtuos" gerichtet, den Shaftesbury
in seinen Schriften so bewundernswürdig gezeichnet hat. Noch bin ich weit
davon entfernt, aber mein Absehen ist doch darauf gerichtet."

Um dieses Ideal zu einer solchen Vollendung zu bringen, daß die Nation
und die Zeit darin das klassische Musterbild ihres Denkens und Strebens hätte
erblicken können, dazu fehlte Wieland die Goethische Universalität des Gemüts
und die schöpferische Kraft des Dichters. Mit Erfindungsgabe, Gestaltungskraft,
namentlich Plastik der Phantasie, war Wieland nur dürftig ausgestattet. Hätte
er indessen auch ein reicheres Maß dieser Eigenschaften besessen, so hätte die
kulturgeschichtliche Aufgabe, die ihm gestellt war, ihn um den Ruhm eines
Dichters im vollen Sinne des Wortes bringen müssen. "Er gefiel sich im
Widerstreit beider Welten," der Welt des Geistes und der Welt der Sinnlich¬
keit, sagt Goethe. Was sein Gemüt am stärksten reizte, war das Vergnügen,
in tausend Wendungen Recht und Macht der Sinnlichkeit gegenüber von über¬
triebenen, schwärmerischen oder heuchlerischen Ansprüchen des Geistes zur Gel¬
tung zu bringen. Der wahre Dichter aber schafft aus vollem, harmonischem
Gemüt heraus, in welchem Geist und Sinnlichkeit ihren Einklang gefunden
haben. Und wie kann Poesie bestehen ohne Begeisterung! Das "Glühen"
aber blieb für Wieland stets etwas Verdächtiges als Ansatz zur Schwärmerei,
aus welcher gar zu leicht die für epikureische Lebensweisheit unverzeihlichsten
Sünden: Mystik und Fanatismus, hervorgehen konnten.

Goethes großer Sinn erkannte auch im faustischen Drang und Überdrang
das wahrhaft Menschliche und wußte mit feinem nachempfinden den mystischen
Gedankengängen der "schönen Seele" gerecht zu werden. Jene Freiheit des
Geistes aber gegenüber dem Sinnlichen, welche erforderlich war, nicht nur um
Mariannen und Philinen, sondern auch um Klärchen und Gretchen zu gestalten,
verdankte er zum guten Teil dem geistvollen Dichter, der durch "Muscirion" auf
ihn gewirkt hatte. Goethe selbst war der erste, der dies anerkannte; er war so
reich, daß er bei keinem Dank zu erröten brauchte. Aber seit durch den großen
Meister der sinnliche Genuß in die Harmonie des Lebens eingeführt ist, seit in
seinen Werken die holdesten, süßesten, entzückendsten Gestalten, welche die Poesie
irgendeiner Zeit oder Nation hervorgebracht hat, nicht mit lehrhafter Absichtlich¬
keit, sondern mit der vollen Unbefangenheit der Natur das Recht der Liebe
zur Geltung bringen, seitdem sind die schalkhaften Erzählungen des Viberacher
Stadtschreibers von Weiberschwachheit in Grcicien und Feenland altbacken und
langweilig geworden. Und wenn auch nach Goethe die deutsche Dichtung es
ab und zu zeitgemäß fand, das alte Thema vom Gelüsten des Fleisches wider den
Geist wieder aufzunehmen, wie in Heinrich Heine, so redet der Sensualismus
jetzt eine Sprache, so keck und unmittelbar gegenständlich, so modern in der Er¬
fassung des Gegensatzes zwischen Diesseits und Jenseits, so entsprechend der


Grenzboten IV. 1837. 67
lvieland und das Humanitätsideal.

in dem Grade, daß ich seinem Guten nicht Gerechtigkeit sollte widerfahren lassen.
Mein Absehen ist auf den Charakter eines Virtuos» gerichtet, den Shaftesbury
in seinen Schriften so bewundernswürdig gezeichnet hat. Noch bin ich weit
davon entfernt, aber mein Absehen ist doch darauf gerichtet."

Um dieses Ideal zu einer solchen Vollendung zu bringen, daß die Nation
und die Zeit darin das klassische Musterbild ihres Denkens und Strebens hätte
erblicken können, dazu fehlte Wieland die Goethische Universalität des Gemüts
und die schöpferische Kraft des Dichters. Mit Erfindungsgabe, Gestaltungskraft,
namentlich Plastik der Phantasie, war Wieland nur dürftig ausgestattet. Hätte
er indessen auch ein reicheres Maß dieser Eigenschaften besessen, so hätte die
kulturgeschichtliche Aufgabe, die ihm gestellt war, ihn um den Ruhm eines
Dichters im vollen Sinne des Wortes bringen müssen. „Er gefiel sich im
Widerstreit beider Welten," der Welt des Geistes und der Welt der Sinnlich¬
keit, sagt Goethe. Was sein Gemüt am stärksten reizte, war das Vergnügen,
in tausend Wendungen Recht und Macht der Sinnlichkeit gegenüber von über¬
triebenen, schwärmerischen oder heuchlerischen Ansprüchen des Geistes zur Gel¬
tung zu bringen. Der wahre Dichter aber schafft aus vollem, harmonischem
Gemüt heraus, in welchem Geist und Sinnlichkeit ihren Einklang gefunden
haben. Und wie kann Poesie bestehen ohne Begeisterung! Das „Glühen"
aber blieb für Wieland stets etwas Verdächtiges als Ansatz zur Schwärmerei,
aus welcher gar zu leicht die für epikureische Lebensweisheit unverzeihlichsten
Sünden: Mystik und Fanatismus, hervorgehen konnten.

Goethes großer Sinn erkannte auch im faustischen Drang und Überdrang
das wahrhaft Menschliche und wußte mit feinem nachempfinden den mystischen
Gedankengängen der „schönen Seele" gerecht zu werden. Jene Freiheit des
Geistes aber gegenüber dem Sinnlichen, welche erforderlich war, nicht nur um
Mariannen und Philinen, sondern auch um Klärchen und Gretchen zu gestalten,
verdankte er zum guten Teil dem geistvollen Dichter, der durch „Muscirion" auf
ihn gewirkt hatte. Goethe selbst war der erste, der dies anerkannte; er war so
reich, daß er bei keinem Dank zu erröten brauchte. Aber seit durch den großen
Meister der sinnliche Genuß in die Harmonie des Lebens eingeführt ist, seit in
seinen Werken die holdesten, süßesten, entzückendsten Gestalten, welche die Poesie
irgendeiner Zeit oder Nation hervorgebracht hat, nicht mit lehrhafter Absichtlich¬
keit, sondern mit der vollen Unbefangenheit der Natur das Recht der Liebe
zur Geltung bringen, seitdem sind die schalkhaften Erzählungen des Viberacher
Stadtschreibers von Weiberschwachheit in Grcicien und Feenland altbacken und
langweilig geworden. Und wenn auch nach Goethe die deutsche Dichtung es
ab und zu zeitgemäß fand, das alte Thema vom Gelüsten des Fleisches wider den
Geist wieder aufzunehmen, wie in Heinrich Heine, so redet der Sensualismus
jetzt eine Sprache, so keck und unmittelbar gegenständlich, so modern in der Er¬
fassung des Gegensatzes zwischen Diesseits und Jenseits, so entsprechend der


Grenzboten IV. 1837. 67
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[0537] lvieland und das Humanitätsideal. in dem Grade, daß ich seinem Guten nicht Gerechtigkeit sollte widerfahren lassen. Mein Absehen ist auf den Charakter eines Virtuos» gerichtet, den Shaftesbury in seinen Schriften so bewundernswürdig gezeichnet hat. Noch bin ich weit davon entfernt, aber mein Absehen ist doch darauf gerichtet." Um dieses Ideal zu einer solchen Vollendung zu bringen, daß die Nation und die Zeit darin das klassische Musterbild ihres Denkens und Strebens hätte erblicken können, dazu fehlte Wieland die Goethische Universalität des Gemüts und die schöpferische Kraft des Dichters. Mit Erfindungsgabe, Gestaltungskraft, namentlich Plastik der Phantasie, war Wieland nur dürftig ausgestattet. Hätte er indessen auch ein reicheres Maß dieser Eigenschaften besessen, so hätte die kulturgeschichtliche Aufgabe, die ihm gestellt war, ihn um den Ruhm eines Dichters im vollen Sinne des Wortes bringen müssen. „Er gefiel sich im Widerstreit beider Welten," der Welt des Geistes und der Welt der Sinnlich¬ keit, sagt Goethe. Was sein Gemüt am stärksten reizte, war das Vergnügen, in tausend Wendungen Recht und Macht der Sinnlichkeit gegenüber von über¬ triebenen, schwärmerischen oder heuchlerischen Ansprüchen des Geistes zur Gel¬ tung zu bringen. Der wahre Dichter aber schafft aus vollem, harmonischem Gemüt heraus, in welchem Geist und Sinnlichkeit ihren Einklang gefunden haben. Und wie kann Poesie bestehen ohne Begeisterung! Das „Glühen" aber blieb für Wieland stets etwas Verdächtiges als Ansatz zur Schwärmerei, aus welcher gar zu leicht die für epikureische Lebensweisheit unverzeihlichsten Sünden: Mystik und Fanatismus, hervorgehen konnten. Goethes großer Sinn erkannte auch im faustischen Drang und Überdrang das wahrhaft Menschliche und wußte mit feinem nachempfinden den mystischen Gedankengängen der „schönen Seele" gerecht zu werden. Jene Freiheit des Geistes aber gegenüber dem Sinnlichen, welche erforderlich war, nicht nur um Mariannen und Philinen, sondern auch um Klärchen und Gretchen zu gestalten, verdankte er zum guten Teil dem geistvollen Dichter, der durch „Muscirion" auf ihn gewirkt hatte. Goethe selbst war der erste, der dies anerkannte; er war so reich, daß er bei keinem Dank zu erröten brauchte. Aber seit durch den großen Meister der sinnliche Genuß in die Harmonie des Lebens eingeführt ist, seit in seinen Werken die holdesten, süßesten, entzückendsten Gestalten, welche die Poesie irgendeiner Zeit oder Nation hervorgebracht hat, nicht mit lehrhafter Absichtlich¬ keit, sondern mit der vollen Unbefangenheit der Natur das Recht der Liebe zur Geltung bringen, seitdem sind die schalkhaften Erzählungen des Viberacher Stadtschreibers von Weiberschwachheit in Grcicien und Feenland altbacken und langweilig geworden. Und wenn auch nach Goethe die deutsche Dichtung es ab und zu zeitgemäß fand, das alte Thema vom Gelüsten des Fleisches wider den Geist wieder aufzunehmen, wie in Heinrich Heine, so redet der Sensualismus jetzt eine Sprache, so keck und unmittelbar gegenständlich, so modern in der Er¬ fassung des Gegensatzes zwischen Diesseits und Jenseits, so entsprechend der Grenzboten IV. 1837. 67

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/537>, abgerufen am 24.08.2024.