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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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lvieland und das Humanitätsideal.

eine Briefstelle Wielands an Geßner bezeichnet: "Die komischen Erzählungen
haben sogar meinen alten ehrwürdigen Protektor, den Grafen von Stadion,
von seinem hergebrachten Vorurteile wider die teutsche Poesie bekehrt; er wun¬
derte sich gar sehr, daß man das alles in teutscher Sprache sagen könne,
denn bisher kannte er die teutsche Sprache nur aus Akten, Urkunden und
Ministerialabschriften." Ungefähr in demselben Falle befand sich der Held des
Jahrhunderts, Friedrich der Große; freilich war der Mann, den die sieben
Jahre zum frühen Greise gemacht hatten, nicht mehr ausgelegt, sich an Scherzen
zu ergehen über die schwachen Augenblicke von Göttinnen, Nymphen und ge¬
wöhnlichen Evastöchtern.

Mürrische Kritiker haben ein geringes Verdienst darin finden wollen, daß
es Wieland gelang, Leserkreise zu erobern, die bis dahin nur französischen
Büchern zugänglich waren. So kann im Ernste niemand urteilen, der die Zeit
kennt. Wenn die höheren Schichten der deutschen Gesellschaft im vorigen Jahr¬
hundert Kenntnis französischer Sprache und Literatur zum Merkmal ihrer
Bildung machten, so mag wohl bisweilen modische Übertreibung und blindes
Vorurteil mit untergelaufen sein, im großen und ganzen war dieses Verhalten
lange Zeit gerechtfertigt durch den Zustand der nationalen Geistesbildung. Konnte
man einem denkenden Manne von Geschmack zumuten, seinen Montesquieu oder
Voltaire beiseite liegen zu lassen und sich aus Patriotismus mit Cramer, dem
deutschen Pindar, Uz, dem deutschen Horaz, und Gleim, dem modernen Anakreon,
zu Vergnügen oder die Prosa Gottscheds und Bodmers für einen ästhetischen
Leckerbissen zu halten? Sobald die deutsche Literatur anfing, dem Geistes-
bcdürfnis der höheren Gesellschaftsklassen wirklich etwas Genießbares zu bieten,
hat es auch an Liebhabern dafür nicht gefehlt. Und Wieland bot in reichem
Maße, was bisher fast überall den deutschen Schriftstellern gemangelt hatte,
wie elegante und geistvolle Darstellung. Wenn die Leichtigkeit bisweilen ein
Aschen in Leichtfertigkeit ausartete, wo ist die geschichtlich wirksame Persönlichkeit,
an welcher die moralische Regel nicht etwas auszusetzen hätte? Mag aber nicht
bloß die Moral, sondern auch die Ästhetik noch so viel gegen Wieland von
einem absoluten Standpunkte aus einzuwenden haben, die Wertschätzung seines
geschichtlichen Verdienstes unterliegt überhaupt einem andern Maßstabe. Hier
handelt es sich um die Frage: Hat er die geistige Entwicklung seines Volkes
gefördert? Ist diese Forderung eine überwiegend heilsame gewesen?

Ebensowenig wie heutzutage irgendeine Universität in der Abfassung des
"Agcithon" einen Anspruch auf die Stelle eines ersten Professors der Philosophie
erblicken würde, oder sowenig wie ein fürstliches oder sonstiges vornehmes Haus
zum Erzieher noch einen Dichter wählen dürfte, der eben den "Idris" heraus¬
gegeben hat, ebensowenig können Wielands "Grazien" oder "Musarion" für
geeignet gelten, zu unsrer Zeit für eine Volksbibliothek empfohlen zu werden.
Es ist ohne alle Frage zweckmäßiger, Teilnahme des Herzens und Geistes von-


lvieland und das Humanitätsideal.

eine Briefstelle Wielands an Geßner bezeichnet: „Die komischen Erzählungen
haben sogar meinen alten ehrwürdigen Protektor, den Grafen von Stadion,
von seinem hergebrachten Vorurteile wider die teutsche Poesie bekehrt; er wun¬
derte sich gar sehr, daß man das alles in teutscher Sprache sagen könne,
denn bisher kannte er die teutsche Sprache nur aus Akten, Urkunden und
Ministerialabschriften." Ungefähr in demselben Falle befand sich der Held des
Jahrhunderts, Friedrich der Große; freilich war der Mann, den die sieben
Jahre zum frühen Greise gemacht hatten, nicht mehr ausgelegt, sich an Scherzen
zu ergehen über die schwachen Augenblicke von Göttinnen, Nymphen und ge¬
wöhnlichen Evastöchtern.

Mürrische Kritiker haben ein geringes Verdienst darin finden wollen, daß
es Wieland gelang, Leserkreise zu erobern, die bis dahin nur französischen
Büchern zugänglich waren. So kann im Ernste niemand urteilen, der die Zeit
kennt. Wenn die höheren Schichten der deutschen Gesellschaft im vorigen Jahr¬
hundert Kenntnis französischer Sprache und Literatur zum Merkmal ihrer
Bildung machten, so mag wohl bisweilen modische Übertreibung und blindes
Vorurteil mit untergelaufen sein, im großen und ganzen war dieses Verhalten
lange Zeit gerechtfertigt durch den Zustand der nationalen Geistesbildung. Konnte
man einem denkenden Manne von Geschmack zumuten, seinen Montesquieu oder
Voltaire beiseite liegen zu lassen und sich aus Patriotismus mit Cramer, dem
deutschen Pindar, Uz, dem deutschen Horaz, und Gleim, dem modernen Anakreon,
zu Vergnügen oder die Prosa Gottscheds und Bodmers für einen ästhetischen
Leckerbissen zu halten? Sobald die deutsche Literatur anfing, dem Geistes-
bcdürfnis der höheren Gesellschaftsklassen wirklich etwas Genießbares zu bieten,
hat es auch an Liebhabern dafür nicht gefehlt. Und Wieland bot in reichem
Maße, was bisher fast überall den deutschen Schriftstellern gemangelt hatte,
wie elegante und geistvolle Darstellung. Wenn die Leichtigkeit bisweilen ein
Aschen in Leichtfertigkeit ausartete, wo ist die geschichtlich wirksame Persönlichkeit,
an welcher die moralische Regel nicht etwas auszusetzen hätte? Mag aber nicht
bloß die Moral, sondern auch die Ästhetik noch so viel gegen Wieland von
einem absoluten Standpunkte aus einzuwenden haben, die Wertschätzung seines
geschichtlichen Verdienstes unterliegt überhaupt einem andern Maßstabe. Hier
handelt es sich um die Frage: Hat er die geistige Entwicklung seines Volkes
gefördert? Ist diese Forderung eine überwiegend heilsame gewesen?

Ebensowenig wie heutzutage irgendeine Universität in der Abfassung des
»Agcithon" einen Anspruch auf die Stelle eines ersten Professors der Philosophie
erblicken würde, oder sowenig wie ein fürstliches oder sonstiges vornehmes Haus
zum Erzieher noch einen Dichter wählen dürfte, der eben den „Idris" heraus¬
gegeben hat, ebensowenig können Wielands „Grazien" oder „Musarion" für
geeignet gelten, zu unsrer Zeit für eine Volksbibliothek empfohlen zu werden.
Es ist ohne alle Frage zweckmäßiger, Teilnahme des Herzens und Geistes von-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/535>, abgerufen am 22.07.2024.