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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Grabe so wohl befinden könne, wie er sich jetzt oft fühlte, wem? er sich ganz
tief in die Erde hineingegraben hatte, und dann plötzlich Tippes kleines Gesicht
über den Rand schaute, und er halb ängstlich, halb schelmisch ausrief: Sag
einmal Piep, alter Jens!

Piep, piep! rief der Alte und blickte mit einem so entzückten Gesicht auf,
als wäre er ein verklärter Engel.

Dies alles waren Kenntnisse, die er vor langen, langen Jahren einmal
besessen, die er aber in all der Zeit, während der es mit seiner Erziehung
zurückgegangen war, vergessen hatte. Jetzt mußte er sie sich mühsam wieder
aneignen, aber das ließ er sich nicht verdrießen, denn es war, als lebten sie
nach der langen Ruhe mit doppelter Frische wieder auf. Es lag gleichsam ein
Strahl von Lenzenswonne und Sonnenschein darin, und der ging mit seiner
schmelzenden Kraft über seine alten erstarrten Züge dahin und ließ etwas von
der zu früh verwelkten Jngend wieder aufblühen.

So gingen der Unterricht und die Erziehung des alten Jens ihren stillen,
regelmäßigen Gang und trugen, ohne daß er selbst davon wußte, reiche Früchte.
Aber im Dorfe sprach man nur über deu eigensinnigen, alten Burschen, mit
dem niemand etwas hatte anstellen können und den jetzt dieser winzig kleine
Junge um den Finger wickelte. Die klugen Leute konnten sich darüber garnicht
beruhigen!

Das geht nicht mit natürlichen Dingen zu! sagten sie. Der Junge wird
nicht alt, deswegen hat er eine solche Macht über den alten Jens. Die Mutter
hat sich auch schon in den Tod vergafft, sie sieht einer Leiche ähnlicher als
einem lebenden Menschen!

Aber trotz alledem gingen die Tage dahin, und mit jedem Tage wurde
Tippe älter. Aber größer und verständiger wurde er auch -- das pflegt ja
so zu sein --, und schließlich war er fünf Jahre alt geworden und hatte bereits
eine ganze Menge von Erfahrungen gesammelt, sowohl über das Leben als
auch über den Tod. Denn während all der Jahre war kein Tag verstrichen,
an dem sein Gevatter Tod nicht seinen Weg gekreuzt hätte, war kein Abend
vergangen, ohne daß die großen uufaßbciren Augen still auf ihn herabgeschaut
hätten, ohne daß Tippe heimlich unter dem Blick dieser Augen erbebt wäre und
sich doch nicht von ihnen hatte losreißen können. Aber wie viel Erfahrung er
auch in dieser Hinsicht gesammelt hatte, so war da doch noch eine Menge von
Dingen, aus denen er nicht klug werden konnte und die er gar zu gern ge¬
wußt hätte.

So kletterte er an einem Sommerabend, als sie in der Dämmerung vom
Friedhofe heimgekehrt waren, auf den Schooß der Mutter, legte sein Köpfchen
an ihre Brust und saß lange schweigend und gedankenvoll da.

Mutter, begann er endlich, warum machen eigentlich alle die Menschen auf
dem Bilde ihre Augen zu?


Grabe so wohl befinden könne, wie er sich jetzt oft fühlte, wem? er sich ganz
tief in die Erde hineingegraben hatte, und dann plötzlich Tippes kleines Gesicht
über den Rand schaute, und er halb ängstlich, halb schelmisch ausrief: Sag
einmal Piep, alter Jens!

Piep, piep! rief der Alte und blickte mit einem so entzückten Gesicht auf,
als wäre er ein verklärter Engel.

Dies alles waren Kenntnisse, die er vor langen, langen Jahren einmal
besessen, die er aber in all der Zeit, während der es mit seiner Erziehung
zurückgegangen war, vergessen hatte. Jetzt mußte er sie sich mühsam wieder
aneignen, aber das ließ er sich nicht verdrießen, denn es war, als lebten sie
nach der langen Ruhe mit doppelter Frische wieder auf. Es lag gleichsam ein
Strahl von Lenzenswonne und Sonnenschein darin, und der ging mit seiner
schmelzenden Kraft über seine alten erstarrten Züge dahin und ließ etwas von
der zu früh verwelkten Jngend wieder aufblühen.

So gingen der Unterricht und die Erziehung des alten Jens ihren stillen,
regelmäßigen Gang und trugen, ohne daß er selbst davon wußte, reiche Früchte.
Aber im Dorfe sprach man nur über deu eigensinnigen, alten Burschen, mit
dem niemand etwas hatte anstellen können und den jetzt dieser winzig kleine
Junge um den Finger wickelte. Die klugen Leute konnten sich darüber garnicht
beruhigen!

Das geht nicht mit natürlichen Dingen zu! sagten sie. Der Junge wird
nicht alt, deswegen hat er eine solche Macht über den alten Jens. Die Mutter
hat sich auch schon in den Tod vergafft, sie sieht einer Leiche ähnlicher als
einem lebenden Menschen!

Aber trotz alledem gingen die Tage dahin, und mit jedem Tage wurde
Tippe älter. Aber größer und verständiger wurde er auch — das pflegt ja
so zu sein —, und schließlich war er fünf Jahre alt geworden und hatte bereits
eine ganze Menge von Erfahrungen gesammelt, sowohl über das Leben als
auch über den Tod. Denn während all der Jahre war kein Tag verstrichen,
an dem sein Gevatter Tod nicht seinen Weg gekreuzt hätte, war kein Abend
vergangen, ohne daß die großen uufaßbciren Augen still auf ihn herabgeschaut
hätten, ohne daß Tippe heimlich unter dem Blick dieser Augen erbebt wäre und
sich doch nicht von ihnen hatte losreißen können. Aber wie viel Erfahrung er
auch in dieser Hinsicht gesammelt hatte, so war da doch noch eine Menge von
Dingen, aus denen er nicht klug werden konnte und die er gar zu gern ge¬
wußt hätte.

So kletterte er an einem Sommerabend, als sie in der Dämmerung vom
Friedhofe heimgekehrt waren, auf den Schooß der Mutter, legte sein Köpfchen
an ihre Brust und saß lange schweigend und gedankenvoll da.

Mutter, begann er endlich, warum machen eigentlich alle die Menschen auf
dem Bilde ihre Augen zu?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/503>, abgerufen am 22.07.2024.