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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

wohlerzogenen Menschen kleiden; aber leider war der alte Jens auch in dieser
Tugend nicht so stark, wie er wohl hätte sein können.

Er hatte ja Jahr für Jahr in seinem Hinterstübchen gehaust, ohne daß
irgend jemand die Nase hineingesteckt hatte. Niemand hatte sich um ihn be¬
kümmert, und er hatte sich vor niemand zu geniren brauchen, hatte keines
Menschen Auge gefürchtet, und da liegt die Versuchung sehr nahe, sich ein wenig
gehen zu lassen, es nicht so genau mit Ordnung und Reinlichkeit zu nehmen.
Hier hatte sich ein Häufchen angesammelt, das hatte er liegen lassen, dort hatte
sich ein andres Häufchen gebildet, und auch das war liegen geblieben, bis er
sich schließlich so daran gewöhnt hatte, daß er glaubte, es müsse so sein, und
ruhig darin sitzen blieb. Kurz und gut, auch in diesem Punkte war die Er¬
ziehung des alten Jens vernachlässigt worden.

Das hatte die Witwe des Schulmeisters auch gefühlt. Sie war in die
Stuben eingezogen, die so manche Jahre wie begraben gewesen waren, und hatte
Reinlichkeit und Ordnung mit sich gebracht. Jetzt blitzte und blinkte dort alles,
und darüber freute sich der alte Jens augenscheinlich. Er betrat die Zimmer
niemals, ohne sich vorher sorgfältig die Füße abgestrichen zu haben, und aus
lauter Hochachtung vor der Reinlichkeit wagte er kaum aufzutreten, sondern
ging stets auf den Zehen.

Aber alles hat seine Grenzen, und bei der ersten verdächtigen Bewegung,
welche die Finger der Mutter nach seinem Hinterstübchen machten, kam der
Starrsinn des Alten zum Vorschein, und er stellte sich wie ein Löwe vor den
Eingang seiner Höhle. Es war kein Gedanke daran, hinein zu kommen, und
die junge Witwe mußte mit Besen und Bürste draußen bleiben.

Aber die Zeit verging, Tippe hörte auf zu kriechen, er stand vom Fu߬
boden auf und watschelte bald hinter der Mutter, bald hinter dem alten
Jens her.

Pfui! sagte die Mutter zu Tippe, wenn er sich einen Fleck auf seinen Anzug
gemacht hatte, denn er sollte es lernen, reinlich zu sein. Das hörte er so lange,
bis er es verstanden hatte, und dann war er reinlich und konnte selber Unter¬
richt in dieser Tugend geben.

Pfui! sagte Tippe eines Tages plötzlich zu dem alten Jens, mit dem er
draußen vor der Thür saß. Der alte Jens fuhr förmlich zusammen vor Schreck,
denn auf so etwas war er doch nicht gefaßt gewesen, Tippe aber schüttelte mi߬
vergnügt den Kopf und zeigte vorwurfsvoll auf sein eines Hosenbein, das nicht
so aussah, wie es wohl Hütte aussehen sollen. Beschämt bedeckte es der alte
Jens schnell mit seinem Rockzipfel, aber unbarmherzig zeigte Tippe auch auf
diesen und wiederholte sein Pfui!

Der alte Jens blickte nieder und konnte nicht leugnen, daß auch dieses
Pfui nicht unbegründet sei, und in seiner Verlegenheit legte er seine braunen,
harten Hände oben auf den Rockzipfel, um diesen damit zu verdecken. Da sagte


Gevatter Tod.

wohlerzogenen Menschen kleiden; aber leider war der alte Jens auch in dieser
Tugend nicht so stark, wie er wohl hätte sein können.

Er hatte ja Jahr für Jahr in seinem Hinterstübchen gehaust, ohne daß
irgend jemand die Nase hineingesteckt hatte. Niemand hatte sich um ihn be¬
kümmert, und er hatte sich vor niemand zu geniren brauchen, hatte keines
Menschen Auge gefürchtet, und da liegt die Versuchung sehr nahe, sich ein wenig
gehen zu lassen, es nicht so genau mit Ordnung und Reinlichkeit zu nehmen.
Hier hatte sich ein Häufchen angesammelt, das hatte er liegen lassen, dort hatte
sich ein andres Häufchen gebildet, und auch das war liegen geblieben, bis er
sich schließlich so daran gewöhnt hatte, daß er glaubte, es müsse so sein, und
ruhig darin sitzen blieb. Kurz und gut, auch in diesem Punkte war die Er¬
ziehung des alten Jens vernachlässigt worden.

Das hatte die Witwe des Schulmeisters auch gefühlt. Sie war in die
Stuben eingezogen, die so manche Jahre wie begraben gewesen waren, und hatte
Reinlichkeit und Ordnung mit sich gebracht. Jetzt blitzte und blinkte dort alles,
und darüber freute sich der alte Jens augenscheinlich. Er betrat die Zimmer
niemals, ohne sich vorher sorgfältig die Füße abgestrichen zu haben, und aus
lauter Hochachtung vor der Reinlichkeit wagte er kaum aufzutreten, sondern
ging stets auf den Zehen.

Aber alles hat seine Grenzen, und bei der ersten verdächtigen Bewegung,
welche die Finger der Mutter nach seinem Hinterstübchen machten, kam der
Starrsinn des Alten zum Vorschein, und er stellte sich wie ein Löwe vor den
Eingang seiner Höhle. Es war kein Gedanke daran, hinein zu kommen, und
die junge Witwe mußte mit Besen und Bürste draußen bleiben.

Aber die Zeit verging, Tippe hörte auf zu kriechen, er stand vom Fu߬
boden auf und watschelte bald hinter der Mutter, bald hinter dem alten
Jens her.

Pfui! sagte die Mutter zu Tippe, wenn er sich einen Fleck auf seinen Anzug
gemacht hatte, denn er sollte es lernen, reinlich zu sein. Das hörte er so lange,
bis er es verstanden hatte, und dann war er reinlich und konnte selber Unter¬
richt in dieser Tugend geben.

Pfui! sagte Tippe eines Tages plötzlich zu dem alten Jens, mit dem er
draußen vor der Thür saß. Der alte Jens fuhr förmlich zusammen vor Schreck,
denn auf so etwas war er doch nicht gefaßt gewesen, Tippe aber schüttelte mi߬
vergnügt den Kopf und zeigte vorwurfsvoll auf sein eines Hosenbein, das nicht
so aussah, wie es wohl Hütte aussehen sollen. Beschämt bedeckte es der alte
Jens schnell mit seinem Rockzipfel, aber unbarmherzig zeigte Tippe auch auf
diesen und wiederholte sein Pfui!

Der alte Jens blickte nieder und konnte nicht leugnen, daß auch dieses
Pfui nicht unbegründet sei, und in seiner Verlegenheit legte er seine braunen,
harten Hände oben auf den Rockzipfel, um diesen damit zu verdecken. Da sagte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/500>, abgerufen am 22.07.2024.