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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Von einem "Eingreifen der lebendig beweglichen Monas in die Umgebungen der
Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich
Begrenztes gewahr wird." Die kreisende Bewegung greift also auch nach außen,
über ihre zunächst gesetzte Grenze, das Leibliche, hinaus, das muß ja unaus¬
gesprochen doch mit gemeint sein. Dazu stimmt dann eine andre Äußerung:
"Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her" (Sprüche in Prosa 791),
also wohl auch nach Art der Weltkörper, man kann aber z. B. auch an Blumen
denken. Diese Vorstellung nimmt übrigens einen wichtigen Platz ein in seinem
Denken (ich möchte in der Kürze nur an den Dunstkreis in Gretchens Zimmer
erinnern) und erscheint überraschend am ausgebildetsten schon in einem Stück
aus früher Zeit, in dem Fragment eines Romans in Briefen bei Schöll, Briefe
und Aufsätze S. 22, das noch in die Leipziger Zeit gehören kann; es ist von
der Liebe die Rede, über deren Wesen zu grübeln er in Leipzig zuerst lebhaft
veranlaßt war, um damit über seine inneren Stürme hinauszukommen. Es
heißt, leben und lieben wäre eins, dann: "O meine Freundin, was nicht lebt,
hat keine anziehende Kraft, es fließt keine Atmosphäre von ihm aus, deren
Wirbel uns hinreißen könnten," also die kreisende Bewegung, die von innen,
vom Innersten ausgeht, in der Atmosphäre des einzelnen Lebendigen sich fort¬
setzend gedacht und so auf andre wirkend, sie ergreifend, das ist die Vorstellung,
die da schon waltet, ganz klar bewußt oder nicht, darauf kommt es nicht an.
Denn es sind nach Art des jungen wunderbaren Genies blitzartige Einfälle,
um deren nüchternen oder schulmäßigen Ausbau er ganz und gar nicht bemüht
ist, die aber doch scharfe Beobachtung enthalten. Nach dem Ausdruck anziehende
Kraft scheint zugleich an den Magneten gedacht, wie uns ja anziehend und
abstoßend längst geläufige Bilder sind, um die Wirkung von Menschen und
ihrem Lebenskreis auf einander sich deutlich zu machen, eben vom Magneten
entnommen, der früh von beobachtenden Denkern als Bild auch für die Er¬
scheinungen des Menschen- und Weltlebens überhaupt gebraucht wurde, bei uns
im Mittelalter z. B. vom Meister Eckhart.

Also die Lebewesen in sich bewegte Kreise, natürlich mit einem Mittelpunkt
als Bezugsquell, die auf einander wirken, anziehend oder abstoßend, das ist die
Vorstellung, die man aus Goethes Gedanken, wie sie über ein halbes Jahr¬
hundert hier verfolgbar sind, herausspinnen kann. Will man das metaphysisch
nennen, was doch sonst Goethes Denken fremd ist, so ist nichts weiter dagegen
zu sagen, sobald man darunter nicht etwas versteht, was über die gegebene
Wirklichkeit unerlangbar hinaufsteigt in Wolken oder Nebel, sondern eben milde"
in ihr findbar ist als das Grundgewebe alles Lebens. Nach meiner Meinung
ist überhaupt bei rechten Dichtern für rechte Metaphysik gar viel zu holen,
schon weil sie für ihr Denken mitten in Leben und Welt hineinzustrcben ange¬
wiesen sind, nicht darüber hinaus.

Doch zur Sache. Ich greife zuerst nach dem Nächsten, in das Kleinste


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Von einem „Eingreifen der lebendig beweglichen Monas in die Umgebungen der
Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich
Begrenztes gewahr wird." Die kreisende Bewegung greift also auch nach außen,
über ihre zunächst gesetzte Grenze, das Leibliche, hinaus, das muß ja unaus¬
gesprochen doch mit gemeint sein. Dazu stimmt dann eine andre Äußerung:
„Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her" (Sprüche in Prosa 791),
also wohl auch nach Art der Weltkörper, man kann aber z. B. auch an Blumen
denken. Diese Vorstellung nimmt übrigens einen wichtigen Platz ein in seinem
Denken (ich möchte in der Kürze nur an den Dunstkreis in Gretchens Zimmer
erinnern) und erscheint überraschend am ausgebildetsten schon in einem Stück
aus früher Zeit, in dem Fragment eines Romans in Briefen bei Schöll, Briefe
und Aufsätze S. 22, das noch in die Leipziger Zeit gehören kann; es ist von
der Liebe die Rede, über deren Wesen zu grübeln er in Leipzig zuerst lebhaft
veranlaßt war, um damit über seine inneren Stürme hinauszukommen. Es
heißt, leben und lieben wäre eins, dann: „O meine Freundin, was nicht lebt,
hat keine anziehende Kraft, es fließt keine Atmosphäre von ihm aus, deren
Wirbel uns hinreißen könnten," also die kreisende Bewegung, die von innen,
vom Innersten ausgeht, in der Atmosphäre des einzelnen Lebendigen sich fort¬
setzend gedacht und so auf andre wirkend, sie ergreifend, das ist die Vorstellung,
die da schon waltet, ganz klar bewußt oder nicht, darauf kommt es nicht an.
Denn es sind nach Art des jungen wunderbaren Genies blitzartige Einfälle,
um deren nüchternen oder schulmäßigen Ausbau er ganz und gar nicht bemüht
ist, die aber doch scharfe Beobachtung enthalten. Nach dem Ausdruck anziehende
Kraft scheint zugleich an den Magneten gedacht, wie uns ja anziehend und
abstoßend längst geläufige Bilder sind, um die Wirkung von Menschen und
ihrem Lebenskreis auf einander sich deutlich zu machen, eben vom Magneten
entnommen, der früh von beobachtenden Denkern als Bild auch für die Er¬
scheinungen des Menschen- und Weltlebens überhaupt gebraucht wurde, bei uns
im Mittelalter z. B. vom Meister Eckhart.

Also die Lebewesen in sich bewegte Kreise, natürlich mit einem Mittelpunkt
als Bezugsquell, die auf einander wirken, anziehend oder abstoßend, das ist die
Vorstellung, die man aus Goethes Gedanken, wie sie über ein halbes Jahr¬
hundert hier verfolgbar sind, herausspinnen kann. Will man das metaphysisch
nennen, was doch sonst Goethes Denken fremd ist, so ist nichts weiter dagegen
zu sagen, sobald man darunter nicht etwas versteht, was über die gegebene
Wirklichkeit unerlangbar hinaufsteigt in Wolken oder Nebel, sondern eben milde»
in ihr findbar ist als das Grundgewebe alles Lebens. Nach meiner Meinung
ist überhaupt bei rechten Dichtern für rechte Metaphysik gar viel zu holen,
schon weil sie für ihr Denken mitten in Leben und Welt hineinzustrcben ange¬
wiesen sind, nicht darüber hinaus.

Doch zur Sache. Ich greife zuerst nach dem Nächsten, in das Kleinste


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[0327] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Von einem „Eingreifen der lebendig beweglichen Monas in die Umgebungen der Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes gewahr wird." Die kreisende Bewegung greift also auch nach außen, über ihre zunächst gesetzte Grenze, das Leibliche, hinaus, das muß ja unaus¬ gesprochen doch mit gemeint sein. Dazu stimmt dann eine andre Äußerung: „Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her" (Sprüche in Prosa 791), also wohl auch nach Art der Weltkörper, man kann aber z. B. auch an Blumen denken. Diese Vorstellung nimmt übrigens einen wichtigen Platz ein in seinem Denken (ich möchte in der Kürze nur an den Dunstkreis in Gretchens Zimmer erinnern) und erscheint überraschend am ausgebildetsten schon in einem Stück aus früher Zeit, in dem Fragment eines Romans in Briefen bei Schöll, Briefe und Aufsätze S. 22, das noch in die Leipziger Zeit gehören kann; es ist von der Liebe die Rede, über deren Wesen zu grübeln er in Leipzig zuerst lebhaft veranlaßt war, um damit über seine inneren Stürme hinauszukommen. Es heißt, leben und lieben wäre eins, dann: „O meine Freundin, was nicht lebt, hat keine anziehende Kraft, es fließt keine Atmosphäre von ihm aus, deren Wirbel uns hinreißen könnten," also die kreisende Bewegung, die von innen, vom Innersten ausgeht, in der Atmosphäre des einzelnen Lebendigen sich fort¬ setzend gedacht und so auf andre wirkend, sie ergreifend, das ist die Vorstellung, die da schon waltet, ganz klar bewußt oder nicht, darauf kommt es nicht an. Denn es sind nach Art des jungen wunderbaren Genies blitzartige Einfälle, um deren nüchternen oder schulmäßigen Ausbau er ganz und gar nicht bemüht ist, die aber doch scharfe Beobachtung enthalten. Nach dem Ausdruck anziehende Kraft scheint zugleich an den Magneten gedacht, wie uns ja anziehend und abstoßend längst geläufige Bilder sind, um die Wirkung von Menschen und ihrem Lebenskreis auf einander sich deutlich zu machen, eben vom Magneten entnommen, der früh von beobachtenden Denkern als Bild auch für die Er¬ scheinungen des Menschen- und Weltlebens überhaupt gebraucht wurde, bei uns im Mittelalter z. B. vom Meister Eckhart. Also die Lebewesen in sich bewegte Kreise, natürlich mit einem Mittelpunkt als Bezugsquell, die auf einander wirken, anziehend oder abstoßend, das ist die Vorstellung, die man aus Goethes Gedanken, wie sie über ein halbes Jahr¬ hundert hier verfolgbar sind, herausspinnen kann. Will man das metaphysisch nennen, was doch sonst Goethes Denken fremd ist, so ist nichts weiter dagegen zu sagen, sobald man darunter nicht etwas versteht, was über die gegebene Wirklichkeit unerlangbar hinaufsteigt in Wolken oder Nebel, sondern eben milde» in ihr findbar ist als das Grundgewebe alles Lebens. Nach meiner Meinung ist überhaupt bei rechten Dichtern für rechte Metaphysik gar viel zu holen, schon weil sie für ihr Denken mitten in Leben und Welt hineinzustrcben ange¬ wiesen sind, nicht darüber hinaus. Doch zur Sache. Ich greife zuerst nach dem Nächsten, in das Kleinste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/327>, abgerufen am 22.07.2024.