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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Frauenkongregation beizutreten. Gegen die Beteiligung der Arbeiterschaft an
weltlichen Vereinen wirkt die Geistlichkeit nach Kräften, und selbst die Kousum-
vereiue werden von ihr als Keime einer sozialdemokratischen Organisation scharf
überwacht. Die katholische Armenpflege hat ihren Mittelpunkt im Se. Vincenz-
Verein, der im Jahre 1885 Unterstützungen im Betrage von etwa 11000 Franks,
meist in Gestalt von Naturalien, verteilte. Die Einwirkung der Geistlichkeit
auf alle diese Genossenschaften erfolgt durch den Beichtstuhl und die Kanzel.
An Sonnabenden Hort sie in Mülhausen von zwei Uhr nachmittags bis acht
Uhr abends, an Sonntagen schon von vier Uhr morgens an Beichte, und man
zählt hier jährlich 80 000 Kommunikanten. In den Predigten wird das Tröst¬
liche, was im Katholizismus für die Armen und Enterbten liegt, stark hervor¬
gehoben, vor falschen Arbeiterfreunden gewarnt und zu verstehen gegeben, daß
nur die Priesterschaft dem Arbeiter Stütze sein könne. Ein besonders eifriger
Bekämpfer des Sozialismus ist der bekannte Stadtpfarrer von Mülhausen,
Abbe Winterer. Sonntags sind die Kirchen allesamt wohl gefüllt. Die Pracht
des katholischen Gottesdienstes macht eben ans den Arbeiter, der alle Werkel¬
tage in seine Fabrik eingesperrt ist, einen mächtigen Eindruck, die Vereine fördern
den kirchlichen Sinn, und die ans dem Volke hervorgegangenen Pfarrer und
Kapläne sind die einzigen Gebildeten, welche mit den Arbeitern in nähern
freundschaftlichen Verkehr treten und sich dabei des geliebten "Dieses," der
deutschen Sprache, bedienen. Der Sozialpolitik der Fabrikanten widerstrebt die
Geistlichkeit grundsätzlich durchaus nicht; denn auch sie will den Arbeiter ab¬
hängig sehen, wenn auch nicht wie jene aus wirtschaftlichen, sondern aus reli¬
giösen Gründen. Wären die Fabrikanten des Oberelsas; klerikal gesinnt, so
würde der Klerus die bestehenden Einrichtungen und Zustände, so zweifelhaften
Wertes sie sind, geradezu als ideal preisen. Da jene aber meist Protestanten
sind und sich gegen die kirchliche Propaganda gleichgiltig verhalten, so kommt
es bei dieser nnr zu wohlwollender Neutralität gegen sie. "Allein es kann
-- sagt Herkner -- unmöglich verkannt werden, daß die klerikale Macht in
stetigem Aufsteigen begriffen ist, und was in Mülhausen von der katholischen
Geistlichkeit zum Teil noch zu erkämpfen steht, ist im übrigen Oberelsaß,
namentlich in und bei Thann und Gebweiler, bereits vollständig erreicht. Hier
ist unter den ärmern Klassen einfach kein moralischer Einfluß zu finden, der
sich an Bedeutung mit dem klerikalen vergleichen ließe."

Betrachten wir jetzt die Thätigkeit der Regierung in Betreff unsrer Frage,
so tritt uns zunächst die Verordnung des Generalgouvcrnenrs vom 18. April
1871 über das Schulwesen entgegen, die als das wichtigste Fabrikgesetz der
Reichslande bezeichnet werden muß. Sie spricht den Grundsatz des obligatorischen
Unterrichts aus, und zwar bis zu der Zeit, wo die Kinder als zur Entlassung
reif erklärt worden sind. Zur Entlassungsprttfung sollen nach ihr die Knaben
nicht vor dem vierzehnten, die Mädchen nicht vor dem dreizehnten Lebensjahre


Frauenkongregation beizutreten. Gegen die Beteiligung der Arbeiterschaft an
weltlichen Vereinen wirkt die Geistlichkeit nach Kräften, und selbst die Kousum-
vereiue werden von ihr als Keime einer sozialdemokratischen Organisation scharf
überwacht. Die katholische Armenpflege hat ihren Mittelpunkt im Se. Vincenz-
Verein, der im Jahre 1885 Unterstützungen im Betrage von etwa 11000 Franks,
meist in Gestalt von Naturalien, verteilte. Die Einwirkung der Geistlichkeit
auf alle diese Genossenschaften erfolgt durch den Beichtstuhl und die Kanzel.
An Sonnabenden Hort sie in Mülhausen von zwei Uhr nachmittags bis acht
Uhr abends, an Sonntagen schon von vier Uhr morgens an Beichte, und man
zählt hier jährlich 80 000 Kommunikanten. In den Predigten wird das Tröst¬
liche, was im Katholizismus für die Armen und Enterbten liegt, stark hervor¬
gehoben, vor falschen Arbeiterfreunden gewarnt und zu verstehen gegeben, daß
nur die Priesterschaft dem Arbeiter Stütze sein könne. Ein besonders eifriger
Bekämpfer des Sozialismus ist der bekannte Stadtpfarrer von Mülhausen,
Abbe Winterer. Sonntags sind die Kirchen allesamt wohl gefüllt. Die Pracht
des katholischen Gottesdienstes macht eben ans den Arbeiter, der alle Werkel¬
tage in seine Fabrik eingesperrt ist, einen mächtigen Eindruck, die Vereine fördern
den kirchlichen Sinn, und die ans dem Volke hervorgegangenen Pfarrer und
Kapläne sind die einzigen Gebildeten, welche mit den Arbeitern in nähern
freundschaftlichen Verkehr treten und sich dabei des geliebten „Dieses," der
deutschen Sprache, bedienen. Der Sozialpolitik der Fabrikanten widerstrebt die
Geistlichkeit grundsätzlich durchaus nicht; denn auch sie will den Arbeiter ab¬
hängig sehen, wenn auch nicht wie jene aus wirtschaftlichen, sondern aus reli¬
giösen Gründen. Wären die Fabrikanten des Oberelsas; klerikal gesinnt, so
würde der Klerus die bestehenden Einrichtungen und Zustände, so zweifelhaften
Wertes sie sind, geradezu als ideal preisen. Da jene aber meist Protestanten
sind und sich gegen die kirchliche Propaganda gleichgiltig verhalten, so kommt
es bei dieser nnr zu wohlwollender Neutralität gegen sie. „Allein es kann
— sagt Herkner — unmöglich verkannt werden, daß die klerikale Macht in
stetigem Aufsteigen begriffen ist, und was in Mülhausen von der katholischen
Geistlichkeit zum Teil noch zu erkämpfen steht, ist im übrigen Oberelsaß,
namentlich in und bei Thann und Gebweiler, bereits vollständig erreicht. Hier
ist unter den ärmern Klassen einfach kein moralischer Einfluß zu finden, der
sich an Bedeutung mit dem klerikalen vergleichen ließe."

Betrachten wir jetzt die Thätigkeit der Regierung in Betreff unsrer Frage,
so tritt uns zunächst die Verordnung des Generalgouvcrnenrs vom 18. April
1871 über das Schulwesen entgegen, die als das wichtigste Fabrikgesetz der
Reichslande bezeichnet werden muß. Sie spricht den Grundsatz des obligatorischen
Unterrichts aus, und zwar bis zu der Zeit, wo die Kinder als zur Entlassung
reif erklärt worden sind. Zur Entlassungsprttfung sollen nach ihr die Knaben
nicht vor dem vierzehnten, die Mädchen nicht vor dem dreizehnten Lebensjahre


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[0215] Frauenkongregation beizutreten. Gegen die Beteiligung der Arbeiterschaft an weltlichen Vereinen wirkt die Geistlichkeit nach Kräften, und selbst die Kousum- vereiue werden von ihr als Keime einer sozialdemokratischen Organisation scharf überwacht. Die katholische Armenpflege hat ihren Mittelpunkt im Se. Vincenz- Verein, der im Jahre 1885 Unterstützungen im Betrage von etwa 11000 Franks, meist in Gestalt von Naturalien, verteilte. Die Einwirkung der Geistlichkeit auf alle diese Genossenschaften erfolgt durch den Beichtstuhl und die Kanzel. An Sonnabenden Hort sie in Mülhausen von zwei Uhr nachmittags bis acht Uhr abends, an Sonntagen schon von vier Uhr morgens an Beichte, und man zählt hier jährlich 80 000 Kommunikanten. In den Predigten wird das Tröst¬ liche, was im Katholizismus für die Armen und Enterbten liegt, stark hervor¬ gehoben, vor falschen Arbeiterfreunden gewarnt und zu verstehen gegeben, daß nur die Priesterschaft dem Arbeiter Stütze sein könne. Ein besonders eifriger Bekämpfer des Sozialismus ist der bekannte Stadtpfarrer von Mülhausen, Abbe Winterer. Sonntags sind die Kirchen allesamt wohl gefüllt. Die Pracht des katholischen Gottesdienstes macht eben ans den Arbeiter, der alle Werkel¬ tage in seine Fabrik eingesperrt ist, einen mächtigen Eindruck, die Vereine fördern den kirchlichen Sinn, und die ans dem Volke hervorgegangenen Pfarrer und Kapläne sind die einzigen Gebildeten, welche mit den Arbeitern in nähern freundschaftlichen Verkehr treten und sich dabei des geliebten „Dieses," der deutschen Sprache, bedienen. Der Sozialpolitik der Fabrikanten widerstrebt die Geistlichkeit grundsätzlich durchaus nicht; denn auch sie will den Arbeiter ab¬ hängig sehen, wenn auch nicht wie jene aus wirtschaftlichen, sondern aus reli¬ giösen Gründen. Wären die Fabrikanten des Oberelsas; klerikal gesinnt, so würde der Klerus die bestehenden Einrichtungen und Zustände, so zweifelhaften Wertes sie sind, geradezu als ideal preisen. Da jene aber meist Protestanten sind und sich gegen die kirchliche Propaganda gleichgiltig verhalten, so kommt es bei dieser nnr zu wohlwollender Neutralität gegen sie. „Allein es kann — sagt Herkner — unmöglich verkannt werden, daß die klerikale Macht in stetigem Aufsteigen begriffen ist, und was in Mülhausen von der katholischen Geistlichkeit zum Teil noch zu erkämpfen steht, ist im übrigen Oberelsaß, namentlich in und bei Thann und Gebweiler, bereits vollständig erreicht. Hier ist unter den ärmern Klassen einfach kein moralischer Einfluß zu finden, der sich an Bedeutung mit dem klerikalen vergleichen ließe." Betrachten wir jetzt die Thätigkeit der Regierung in Betreff unsrer Frage, so tritt uns zunächst die Verordnung des Generalgouvcrnenrs vom 18. April 1871 über das Schulwesen entgegen, die als das wichtigste Fabrikgesetz der Reichslande bezeichnet werden muß. Sie spricht den Grundsatz des obligatorischen Unterrichts aus, und zwar bis zu der Zeit, wo die Kinder als zur Entlassung reif erklärt worden sind. Zur Entlassungsprttfung sollen nach ihr die Knaben nicht vor dem vierzehnten, die Mädchen nicht vor dem dreizehnten Lebensjahre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/215>, abgerufen am 22.07.2024.