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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

Weise bei, wie die Mehrzahl der Arbeiter hier wohnt. Themm besitzt in Teilen
der Vorstadt Kaltenbach, in der Storchengasse und in dem Gebändckomplexe,
der La Rochelle genannt wird, Massen von Wohnungen, die an Überfüllung,
schlechter Lüftung und Anhäufung von Unrat ganz Ungewöhnliches leisten, in
Buhl giebt es zu verschiednen Mietwohnungen keine Aborte, und man behilft
sich bei dem Mangel -- mit dem Boden; ähnlich steht es in Altkirch, in Kolmar
ist es nicht viel besser bestellt, und die Haslinger Straße sowie gewisse Partien
an der Lauch mögen zwar mit ihren windschiefen, verwitterten Hütten recht
malerisch sein, sich aber doch mehr der Aufmerksamkeit der Gesundheitspolizei
als dem Studium der Künstlerschaft empfehlen. Ju Gebweiler und in Kolmar
hat man es mit einer Wohnungsreform nach Art der Mülhciuser Cite versucht,
aber der Preis der Häuschen stellte sich über achthundert Mark höher als dort,
und da hier die Lohnsätze und die Mietpreise geringer waren, so wurde in
Kolmar nicht ein einziges Hans an Arbeiter verkauft, und in Gebweiler ge¬
langten vorwiegend Direktoren, Büreauschreiber und Werkmeister zu solchem
Eigentums. In Kolmar besitzt die Firma Herzog u. Comp. die Cite, deren
Wohnungen sie den Arbeitern des Etablissements vermietet. Ähnlich überlassen
Fabrikanten in Sennheim, Seutheim, Buhl und Münster ihren Leuten miet¬
weise Wohnräume. Dann kommt es allerdings nicht leicht zu allznstarker Be¬
setzung, Verwahrlosung und gesundheitswidriger Verdauung der Häuser, aber
der Arbeiter wird abhängiger vom Arbeitgeber, wenn dieser zu seinem Haus¬
herrn wird.

Die Arbeitgeber haben einiges für die Arbeiter gethan, was aber zu¬
gleich ihnen selbst zu Gute kam. Dahin gehört die Gründung der Gesellschaft
zur Vermeidung von Unglücksfcillcn, welche anfangs ein Viertel der Elsässer
Spindeln, nach Erlaß des Unfallversicherungsgesetzes aber schon 1883 drei
Viertel derselben umfaßte, sich aber um die Lage des Arbeiters nach einem
Unfall nicht kümmerte, sodaß die Ersetzung des bekannten Neichshaftpslicht-
gesetzes vou 1873 durch das Uufallversicheruugsgesetz Bismarcks eine an¬
sehnliche Verbesserung bedeutete. Außer der Thätigkeit jener Gesellschaft ist
ans den Kreisen der Fabrikanten seit 1870 nichts hervorgegangen, was all¬
gemeinere Bedeutung beanspruchen könnte. Vielleicht ist jemand geneigt, die
Gewinnbeteiligung, die in der Fabrik von Schaeffer, Lalance u. Comp. zu
Pfastadt eingeführt worden ist, als eine neue "soziale That" des industriellen
Maguatentums im Oberelsaß aufzufassen. Aber schon Frommer hat in seiner
Schrift "Die Gewinnbeteiligung" (Leipzig, 1886) auf Seite 37 vor diesem
Irrtume gewarnt, und Herrner zeigt, daß diese Einrichtung nicht nur dem
Arbeitgeber nichts kostet, sondern ihm sogar einen erheblichen Vorteil bringt.
Im ersten Artikel des betreffenden Reglements heißt es: "Um ihren besten
Werkmeister" und Arbeitern einen Beweis ihrer Zuneigung zu geben, und um
sie mehr an die Fabrik zu fesseln," habe die Firma sich entschlossen, jedes Jahr


Die soziale Frage im Reichslande.

Weise bei, wie die Mehrzahl der Arbeiter hier wohnt. Themm besitzt in Teilen
der Vorstadt Kaltenbach, in der Storchengasse und in dem Gebändckomplexe,
der La Rochelle genannt wird, Massen von Wohnungen, die an Überfüllung,
schlechter Lüftung und Anhäufung von Unrat ganz Ungewöhnliches leisten, in
Buhl giebt es zu verschiednen Mietwohnungen keine Aborte, und man behilft
sich bei dem Mangel — mit dem Boden; ähnlich steht es in Altkirch, in Kolmar
ist es nicht viel besser bestellt, und die Haslinger Straße sowie gewisse Partien
an der Lauch mögen zwar mit ihren windschiefen, verwitterten Hütten recht
malerisch sein, sich aber doch mehr der Aufmerksamkeit der Gesundheitspolizei
als dem Studium der Künstlerschaft empfehlen. Ju Gebweiler und in Kolmar
hat man es mit einer Wohnungsreform nach Art der Mülhciuser Cite versucht,
aber der Preis der Häuschen stellte sich über achthundert Mark höher als dort,
und da hier die Lohnsätze und die Mietpreise geringer waren, so wurde in
Kolmar nicht ein einziges Hans an Arbeiter verkauft, und in Gebweiler ge¬
langten vorwiegend Direktoren, Büreauschreiber und Werkmeister zu solchem
Eigentums. In Kolmar besitzt die Firma Herzog u. Comp. die Cite, deren
Wohnungen sie den Arbeitern des Etablissements vermietet. Ähnlich überlassen
Fabrikanten in Sennheim, Seutheim, Buhl und Münster ihren Leuten miet¬
weise Wohnräume. Dann kommt es allerdings nicht leicht zu allznstarker Be¬
setzung, Verwahrlosung und gesundheitswidriger Verdauung der Häuser, aber
der Arbeiter wird abhängiger vom Arbeitgeber, wenn dieser zu seinem Haus¬
herrn wird.

Die Arbeitgeber haben einiges für die Arbeiter gethan, was aber zu¬
gleich ihnen selbst zu Gute kam. Dahin gehört die Gründung der Gesellschaft
zur Vermeidung von Unglücksfcillcn, welche anfangs ein Viertel der Elsässer
Spindeln, nach Erlaß des Unfallversicherungsgesetzes aber schon 1883 drei
Viertel derselben umfaßte, sich aber um die Lage des Arbeiters nach einem
Unfall nicht kümmerte, sodaß die Ersetzung des bekannten Neichshaftpslicht-
gesetzes vou 1873 durch das Uufallversicheruugsgesetz Bismarcks eine an¬
sehnliche Verbesserung bedeutete. Außer der Thätigkeit jener Gesellschaft ist
ans den Kreisen der Fabrikanten seit 1870 nichts hervorgegangen, was all¬
gemeinere Bedeutung beanspruchen könnte. Vielleicht ist jemand geneigt, die
Gewinnbeteiligung, die in der Fabrik von Schaeffer, Lalance u. Comp. zu
Pfastadt eingeführt worden ist, als eine neue „soziale That" des industriellen
Maguatentums im Oberelsaß aufzufassen. Aber schon Frommer hat in seiner
Schrift „Die Gewinnbeteiligung" (Leipzig, 1886) auf Seite 37 vor diesem
Irrtume gewarnt, und Herrner zeigt, daß diese Einrichtung nicht nur dem
Arbeitgeber nichts kostet, sondern ihm sogar einen erheblichen Vorteil bringt.
Im ersten Artikel des betreffenden Reglements heißt es: „Um ihren besten
Werkmeister» und Arbeitern einen Beweis ihrer Zuneigung zu geben, und um
sie mehr an die Fabrik zu fesseln," habe die Firma sich entschlossen, jedes Jahr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/170>, abgerufen am 22.07.2024.